Kultur: Heroischer Hedonismus
Opernstiftungs-Direktor Schindhelm las bei Wist
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Opernstiftungs-Direktor Schindhelm las bei Wist Der Autor Michael Schindhelm ist anders als alle die Autoren, die nun im Portrait von den Wänden des Salons in Carsten Wists Literaturladen auf die Zuhörer hinab blicken. Es scheint, als reichte es ihm nicht, nur einfach Schriftsteller zu sein. Er hat schon immer neue Herausforderungen gesucht. Nach dem Studium der Quantenchemie im russischen Woronesch arbeitete er an der Berliner Akademie der Wissenschaften, übrigens zusammen mit Angela Merkel. Nach der Wende wechselte er das Metier radikal. Er leitete zunächst kleinere Theater, und der Erfolg führte ihn als Intendant nach Basel. Seit kurzem ist er nun der erste Generaldirektor der neu gegründeten Berliner Opernstiftung. Schindhelm leugnet eine gewisse Eitelkeit nicht. Der Job reizt ihn, weil die Leitung von drei Opernhäusern auf einmal eine Aufgabe ist, die es sonst nirgendwo auf der Welt gibt. Kommt dann die Literatur nicht zu kurz? Michael Schindhelm ist das, was man einen brillanten Menschen nennt. Sein Blick ist so scharf wie sein Verstand. Er schafft sein Pensum mit Disziplin, er nennt diese Einstellung, die auch sein Held Sebastian Müller teilt, „heroischen Hedonismus“. Mit dem Schreiben schafft er sich früh morgens zwei Stunden „autonome, anders funktionierende Zeit“. Schindhelm ist überzeugt: „Ganz ausliefern würde ich mich dem Literaturbetrieb nie.“ Insgesamt vier Bücher hat er bereits geschrieben, nach „Roberts Reise“ ist „Die Herausforderung“, aus dem er nun zum einjährigen Jubiläum des Literaturladens las, sein zweiter Roman. Sein Buch, so der Autor, erzähle von der Schnittstelle zwischen Privatem und Öffentlichem, von der Frage der Autonomie des Privaten und von der „Theatralisierung der Politik“. Der Held, Sebastian Müller, kommt als Quereinsteiger aus dem Westen in die Politik und wird schnell Spitzenkandidat im sächsischen Wahlkampf. Müller muss in der Ehe mit seiner Frau Christine feststellen, dass sie beide Menschen sind, „die für Verbindlichkeiten nicht geschaffen sind.“ Christine entwickelt das seltsame Hobby, die Wahlplakate ihres Mannes in möglichst bizarrer Umgebung zu fotografieren, sie begibt sich auf Fotosafari durchs Land. Schindhelm liest, wie sie bei solch einer Fahrt auf der Suche nach dem wahren Gesicht ihres Mannes, auf einer Landstraße in ein halsbrecherisches Überholmanöver verwickelt und ihr Wagen dabei aggressiv bedrängt wird. Eine Metapher für ihre – öffentliche – Position? „Ihre Stirn wurde plötzlich heiß, und ein ihr sonst unvertrauter Hass durchflutete sie.“ Ihr Mann, der nach den Worten von Schindhelm wie alle seine Figuren ein Geheimnis zu verbergen versucht, wird durch ein Ereignis aus seiner Routine gerissen, das sein Innerstes herausfordert: in einer Straßenbahn lässt er sich von einer Jugendbande in ein Handgemenge verwickeln. Die Jugendlichen beschimpfen ihn eher reflexartig mit „Du Judensau!“ Sie können nicht wissen, dass Müller seine jüdische Abstammung Zeit seines Leben verschwiegen, ja verleugnet hat. Er gerät in Panik, versucht, den Vorfall als Diebstahl darzustellen und verstrickt sich in Ausflüchten. Die Sprache Schindhelms ist analytisch, sie passt zu jemandem, der sich dem Publikum als Intellektueller und planvoll Handelnder vorgestellt hat. Er praktiziert auch schriftstellerisch einen heroischen Hedonismus, der viel Wert auf Disziplin, Kongruenz und Benennung legt – mit der Betonung auf „heroisch“. Die Kunst von Schindhelm ist heldenhaft in dem Geleisteten, schwelgerische Genusssucht löst sie weniger aus. Matthias Hassenpflug
Matthias Hassenpflug
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