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Kultur in Potsdam: Im Spiegel der Seele

Rainer Simons Fotos und Texte aus Amerika: zu sehen ab Donnerstag in einer Ausstellung im Potsdamer Filmmuseum

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Das Elend wird nicht ausgestellt. Jedenfalls nicht auf den Fotos. Armut und Kriminalität, die er auch am eigenen Leibe bei Überfällen zu spüren bekam, beschreibt Rainer Simon nur im ausstellungsbegleitenden Katalog: Eingeordnet, differenziert, mit dem Blick auf das Ganze. Denn der Filmemacher, Fotograf und Autor betrachtet die Welt aus allen Perspektiven. Vor allem aus den Innensichten. Und dort findet er einen großen Reichtum: in den Menschen, in der Natur.

Seit seinem Eintauchen in das Leben Südamerikas haben sich ihm die Gedanken- und Seelentiefen der Indigenas immer intensiver offenbart, in Ritualen und Geisterbeschwörungen, in den Traum- und Tagwelten, die bei ihnen noch zusammengehören. Auch er selbst ist seinen Träumen näher gekommen, seit er vor über 20 Jahren das erste Mal auf den Spuren von Humboldt den Chimborazo in Ecuador bestieg, um daraus die erste offizielle Koproduktion Ost- und Westdeutschlands zu drehen. Was er in der sogenannten Dritten Welt entdeckte, die er seit 1988 jedes Jahr aufs Neue durchstreift, zeigen die Fotos und Texte aus Amerika, die anlässlich seines 70. Geburtstages ab heute Abend in einer Foyerausstellung des Filmmuseums „Hinter die Bilder schauen“ lässt.

Und hinter die Gesichter, wie bei Cesáro Piaguaje, dem Schamanen der Secoya-Indianer im Norden Ecuadors. Stolz trägt der alte Mann die farbenfrohe Kleidung seines Stammes. Auf den Stock gestützt schaut er mit der Weisheit des spirituellen Sehers in die Ferne. Er konnte sich seine Würde bewahren, kehrte mit seinem Stamm zu den Wurzeln zurück.

Wie Rainer Simon am Rande der Ausstellung erzählt, ließen in den 70er Jahren Erdölgesellschaften den Lebensraum der Indianer zu Kloaken werden, Straßen bestanden nur noch aus Erdölschlamm. Dazu kamen evangelische Sekten aus den USA, die die Indianer missionierten. Sie kauften ihren Glauben, bestachen sie mit verheißungsvollen Dollars. Das führte so weit, dass es den Ureinwohnern ab 1992 verboten war, ihre eigenen Lieder zu singen. Coca Cola statt alte Legenden. Doch die Secoya befreiten sich aus den Klauen des vermeintlichen Wohlstands, zogen sich in die letzte Ecke des Urwalds zurück. Sie gründeten eine neue Gemeinde, wo sie wieder leben konnten, wie sie leben wollten. Fernab von Erdölausbeutern und Evangelisten. Zehn Familien auf den Weg zu sich: Mit Macheten, Gasflaschen, Motorsäge und Regenschirmen – mit so viel Neuzeit wie nötig. Sie bauten sich eine Schule, keine Kirche. Rainer Simon, der sie besuchen und fotografieren durfte, erlebte eine unglaubliche Harmonie, „die Kinder wachsen gleichberechtigt ins Leben rein“. Er hielt mit der Kamera fest, wie Frauen die Yuca-Wurzel für die Chicha präparieren oder Fladenbrot zubereiten. Oder ein Alter die Yoco-Liane raspelt, aus der ein gelbes Getränk gebraut wird: 40-mal so stark wie Kaffee, Kraft spendend und Hunger tilgend. Den schwarzen Sud des Yagé, der heiligen Pflanze, die alle Sinne schärft, probierte auch Rainer Simon und er schwärmt von seinen schillernden Wachträumen, von denen er bildkräftig erzählt. Für einen Film über diese im Einklang mit der Natur lebenden Widerständler bekam er das Geld nicht zusammen. Doch auch die Fotos sprechen Bände. Man sieht ihnen an, dass sie keine erbeuteten Schnappschüsse sind, sondern die Krönung einer einvernehmlichen Zwiesprache zwischen dem Mann hinter der Kamera und den Menschen davor. Gerade in Ecuador, seiner zweiten Heimat, wo Reiner Simon so viel lernte, vor allem von seiner Patenfamilie, die in der Ausstellung natürlich nicht fehlt.

Inzwischen schlägt der Künstler und Humboldtianer größere Kreise, war in Mexiko und Chile, Bolivien und Guatemala. Und auch in den USA und Kanada auf seiner Filmmaker’s Tour, die ihn zu über 20 Universitäten und Colleges führte, um im Auftrag der Defa-Library in Amherst (USA) über seine eigenen und andere Filme der DDR zu sprechen. Er war schockiert von der politischen Ignoranz der jungen Leute, denen jede Art von Utopie fehle. Wenn er vor ihnen über die Verantwortlichkeit jedes Einzelnen erzählte, dem Credo all seiner Filme, hatte er nur das Gefühl, er rede wie in Wattebäusche. Doch alle lächelten, selbst wenn er mit Diskussionen über Kriegsteilnahme und Rassismus provozierte. „In Südamerika spürte ich Freundlichkeit, die vom Herzen kommt, in den USA traf ich nur auf Freundlichkeit, die nichts bedeutet.“ Doch bei Kindern fand er noch den gleichen unverstellten Blick: egal ob sie in Boston leben oder im Urwald. Und so hängen sie auch einvernehmlich nebeneinander.

Die Gegensätze macht Rainer Simon sehr kontrastreich deutlich: So hängt das Empire State Building über einer Blechhütte in Guatemala. Im Morgengrauen spielende Kinder am Fluss sind neben einem monströsen Spielcasino zu sehen, das sich wie eine Fata Morgana in der nebelverhangenen Hügellandschaft von Connecticut herausschält. In einem Indianerreservat zwischen Boston und New York, betrieben von Profis, die natürlich keine Indianer sind. Doch der größte Teil der Einnahmen an den Hunderten von Spieltischen kommt tatsächlich den Indianern zugute. Die einst beinahe Ausgerotteten fahren nun dicke BMW. Arbeiten gehen sie nicht.

Rainer Simons Bilder kommentieren sich von selbst, die schwindelerregenden Wolkenkratzer neben der unverdrossen auf Kundschaft wartenden Blumenverkäuferin am Straßenrand von Bolivien oder Mexiko. Fotos, die Westeuropäern exotisch erscheinen mögen und doch die Seele öffnen und Sehnsucht schüren.

Der Filmemacher hat sich wiedergefunden in der indianischen Sicht auf die Welt, beim Drehen in der „Wildnis“, die für ihn keine ist, in der er die Kraft einer ursprünglichen Kultur spürt. Vor gut 20 Jahren wusste Rainer Simon über Humboldt nicht mehr, als dass eine Universität nach ihm benannt wurde. Heute ist er wie der Naturwissenschaftler vor über 200 Jahren auf dem ganzen Kontinent unterwegs, statt dem Sextant die Kamera in der Hand. Während Humboldt unter freiem Himmel schlief, umgeben von Boas und Jaguaren, leistet sich Rainer Simon ein Dach überm Kopf. Doch Gefahren lauern auch jetzt, „vor allem in Städten, wo die Armut und Verführung besonders groß ist. Ich reise trotzdem. Ich kann nicht anders.“ Wer „Hinter die Bilder schaut“ bekommt eine Ahnung, was Rainer Simon treibt. Hinter die Bilder schauen, heißt für ihn, in den Spiegel der Seele zu blicken und die eigenen Innenwelten zu entdecken.

Eröffnung heute 19.30 Uhr im Foyer des Filmmuseums. Anschließend ist der Wunschfilm Rainer Simons „Birdwatchers – Im Land der roten Menschen“ von Marco Bechis zu sehen. Zur Ausstellung ist für 9,90 Euro ein Katalog erhältlich

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