Potsdam 1984: Eine Ausstellung: Jedes Bild erzählt eine eigene Geschichte
Jürgen Strauss hat 1984 mit der Kamera das Leben in Potsdam ergründet, eine Auswahl seiner Bilder ist im Potsdam Museum zu sehen
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Anfangs ist da ein Unbehagen, was die Ausstellung von Jürgen Strauss betrifft. 60 Schwarzweiß-Fotografien von Potsdam aus dem Jahr 1984 hat Strauss zusammengestellt. Er hat „mit seiner Kamera Straßen, Plätze und Begegnungen in der Stadt festgehalten und dokumentiert damit Potsdamer Zeitgeschichte“, schreibt das Potsdam Museum, wo am morgigen Sonntag die Ausstellung eröffnet wird. Diese Sammlung von Bilddokumenten sei zugleich eine Sammlung von Geschichten und Erinnerungen an das Leben in den 1980er-Jahren in der DDR. Und dann noch dieser Satz: „Oftmals scheint es, als drohten die Stadt und ihre Menschen in ihrer Enge zu erstarren.“
Es ist genau dieser Satz, der für das Unbehagen sorgt. Denn er gibt eine Lesart für die Bilder vor, die kaum Platz für Positives lässt. DDR, das war vor allem Starrheit und Enge. Doch wer sich mit dieser Einstellung auf die Zeitreise mit Jürgen Strauss begibt, dem wird vieles auf diesen Aufnahmen verborgen bleiben. Und er wird den Bildern von Strauss nicht gerecht. Wer sich aber für diese, unsere Stadt interessiert, egal ob er sie erst seit wenigen Jahren kennt oder schon seit den 80ern, 70ern, 60ern oder noch länger hier lebt, der muss diese Ausstellung sehen. Denn in seinen Bildern ist Jürgen Strauss nicht nur ein Chronist des Alltäglichen mit genauem Blick, sondern auch ein großer Erzähler.
Betritt man die Ausstellung „1984 Photographie – Jürgen Strauss“ und geht langsam von Bild zu Bild, stellt sich schon bald ein Gefühl der Beklemmung ein. Diese Aufnahmen von Straßenszenen, das grobkörnige Schwarzweiß, die manchmal skeptischen, manchmal abweisenden oder gedankenverlorenen Gesichter der Passanten, diese kühle Atmosphäre, all das strahlt etwas Abweisendes, Distanziertes aus. Und oft genug fragt man sich, ob diese Aufnahmen tatsächlich erst vor 30 Jahre entstanden sind. Da ist das Bild von einer Autowerkstatt am Plantagenplatz in Babelsberg. Und das Gefährt, das dort auf der Rampe steht und abgesprüht wird, hat mit Sicherheit schon in den 80er-Jahren Oldtimerstatus gehabt. Oder die Ruinen auf dem Pfingstberg, die so wirken, als hätte da einer mit seiner Kamera zerbombte Stadtlandschaften kurz nach dem Zweiten Weltkrieg durchstreift. Das alles wirkt so weit und so fern und so fremd, dass man oft genug einen Schritt zurückgehen muss und sich bewusst macht, dass diese Vergangenheit noch gar nicht so lange zurückliegt. Und dann hört man die Gespräche der wenigen Gäste bei der Pressebesichtigung am gestrigen Freitag und erkennt, was diese Bilder bewirken: Sie wecken Erinnerungen, die durch den fotografischen Spaziergang von Jürgen Strauss plötzlich ganz präsent sind. Denn das ist diese Ausstellung vor allem, ein Spaziergang, auch wenn Strauss sagt, dass es keinen roten Faden gibt.
In Berlin geboren, war Strauss 1984 in den Verband der Bildenden Künstler der DDR aufgenommen worden und seitdem als freier Fotograf in den Städten unterwegs. Es war auch die Zeit, in der der heutige Potsdamer diese Stadt für sich entdeckte. Mit der Kamera war er hier unterwegs, um, wie er sagt, das Leben zu ergründen, die Menschen besser kennenzulernen. Schaut man in die Gesichter der Erwachsenen, wird das, so möchte man glauben, nicht so einfach gewesen sein. Schaut man dagegen in die Gesichter der Kinder, ist da schon mehr Offenheit zu erkennen. Strauss hat am Platz der Einheit fotografiert, in Babelsberg und in der Innenstadt. Da ist das Bild vom Gebäude der Fachhochschule und der Nikolaikirche vom Hotel Mercure aus aufgenommen. An der Kirche hängt ein Banner mit der Aufschrift „Ein Gott für alle Fälle“, im Vordergrund die obligatorische DDR-Fahne und auf der Straße – man schaut unwillkürlich zweimal hin – fährt tatsächlich ein Traktor. Und man fragt sich, wann man das zuletzt in dieser Stadt gesehen hat, einen Traktor auf der Straße. Oder das Bild mit den beiden Männern auf der Humboldtbrücke, im Hintergrund der Babelsberger Park mit dem eingerüsteten Flatowturm. Zwei Männer im Gespräch, einer steht neben seinem Fahrrad, der andere ist mit dem Kinderwagen unterwegs. Heutzutage ein ganz alltägliches Bild. Gleichzeitig aber fragt man sich, wann man je auf den zahlreichen Bildern aus der DDR Kinderwagen schiebende Männer gesehen hat. Und dann trifft man unerwartet alte Bekannte wieder: Clown Locki und Clown Eddi auf einem Abrissgrundstück in der Gutenbergstraße. Da stehen die beiden in ihren Kostümen und proben laut Text zu den Aufnahmen. Und fast möchte man laut lachen über diese absurden und gleichzeitig so tiefschichtigen Bilder. Da treiben zwei Clowns ihren Schabernack vor einer erschreckenden Abrisskulisse in der historischen Potsdamer Innenstadt. Und es ist das Marode, der Verfall, der in vielen dieser Aufnahmen mal ganz offensichtlich, dann wieder erst auf den zweiten Blick erkennbar wird, der hier für das Gefühl der Beklemmung sorgt. Und das sind auch die Momente, die eine erschreckende, fast schon schockierende Wirkung haben.
Da ist die Aufnahme von der Gutenbergstraße, Ecke Jägerstraße. Und man kann gar nicht glauben, dass dieser Trümmerhaufen noch gerettet wurde. Oder die beiden Aufnahmen vom Belvedere auf dem Pfingstberg, was von dem 1984 noch übrig war. Aber schaut man bei der Belvedere-Aufnahme genauer hin, sind da schon die ersten Aktivisten der Pfingstbergretter an der Arbeit. Denn auch wenn Jürgen Strauss, der im eigenen Verlag schon zahlreiche Bildbände nicht nur über Potsdam veröffentlicht hat, auf seinen Bildern schonungslos den Verfall der DDR offenlegt, zeigen diese Bilder viel mehr als nur Enge und Starrheit. Und auch die Anspielung mit dem Titel „1984“ auf den bekannten Roman von George Orwell über den Horror eines totalitären Präventions- und Überwachungsstaates ist nur eine weitere Facette in diesem vielschichtigen Rückblick auf diese Stadt.
Jedes der 60 Bilder erzählt eine eigene Geschichte. Das ist das Großartige an der Ausstellung. Und dass man erkennt, welche glückliche Wendung die Entwicklung in Potsdam in den vergangenen Jahren genommen hat. Egal, wie kritisch man zu manchen der Bauvorhaben stehen mag, sieht man diese Bilder, kann man doch nur dankbar sein. Nach dem Besuch im Potsdam Museum empfiehlt sich ein Spaziergang durch die Stadt. Der muss nicht lang sein. Aber mit Sicherheit wird man dabei Potsdam mit anderen Augen sehen.
Die Ausstellung wird am morgigen Sonntag um 11 Uhr im Potsdam Museum, Am Alten Markt, eröffnet und ist bis zum 23. Februar dienstags bis freitags von 10-17 Uhr, donnerstags von 10-19 Uhr, samstags, sonntags und feiertags von 10-18 Uhr geöffnet. Im Rahmen der morgigen Eröffnung spricht die Potsdamerin Saskia Hüneke als Zeitzeugin über ihr Potsdam der 1980er-Jahre
Dirk Becker
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