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Kultur: Kindheit – fremder Planet

Irena Brená aus der Schweiz liest heute im Haus der Kulturen am Schlaatz

Stand:

Frau Brená, in Ihrem neuen Roman, aus dem Sie heute im Haus der Kulturen und Generationen am Schlaatz lesen werden, beschreiben Sie ihre Kindheit in der damals sozialistischen Slowakei. Warum dieses Thema?

Ich habe mich als Reporterin mit fremden Kriegen und fremden Sitten so ausgiebig befasst, dass ich beschloss, auf meine eigene Kindheit zurückzugreifen und sie als Grundlage für einen Roman zu nutzen. Ich wollte nicht ständig das Leben anderer erforschen und fing an, die untergegangene Welt eines slowakischen Städtchens in den 50-er und 60-er Jahren so zu beschreiben, als wäre es ein fremder Planet, und ich fand heraus, dass es sogar science fiction ist. Ich betrachtete es wie mit einem Fernrohr, doch diese fast ethnologische Distanz bewirkte offenbar eine allgemein menschliche Nähe. Bei Lesungen in Polen und in der Slowakei sagten mir junge Menschen, dass sie sich in der inneren Stimme meiner Protagonistin wieder erkennen, dass dieses Mädchen in jedem lebe.

Die Erzählerin, das Mädchen, lebt in einer Zwischenwelt. Auf der einen Seite das bürgerliche Elternhaus, auf der anderen die sozialistische Schule. Von der Erzählung strömt jugendliche Begeisterung aus, fast könnte man von Glück reden.

Ja, das Glück soll spürbar werden, allerdings ist es ein Glück in einer Diktatur und in einer Welt mit vielen Verboten. Die Mutter gerät ins Gefängnis, das ist die rote Linie dieses Glücks. Das Gefängnis ist auch als Metapher für das Land zu verstehen, das sich als Ganzes im Gefängnis befindet. Das Mädchen benutzt allerdings gerade die kommunistische Propaganda für ihre eigene Befreiung vom bürgerlichen Elternhaus. Durch die unvereinbaren Gegensätze zwischen Elternhaus und Schule wird ihre Selbstwerdung vorangetrieben. Auch die Abwesenheit der Mutter gestattet es dem Mädchen, bei aller Tragik natürlich, die mütterlichen Ansichten zu hinterfragen. Das Verschwinden der Mutter erzeugt ein Vakuum, darin kann das Mädchen ihre eigenen Gedanken spinnen. Sie nennt sich ja Sammlerin der Gedanken.

Die Frauen in Ihrem Text scheinen nicht frei zu sein. Ihre weibliche Identität hängt immer von jemandem ab, hier von der Großmutter, der Mutter, der Lehrerin.

Die Abhängigkeit der Frauen vom Mann oder vom Vater Staat ist auch spielerisch gemeint. Sie benutzen altbewährte Mittel, um die Männer reinzulegen. Und die sozialistische Erziehung bringt die Frauenemanzipation mit sich. Die Frauen werden in die Produktion einbezogen und haben dadurch nicht nur die Doppelbelastung, sondern auch eine relative ökonomische Unabhängigkeit und soziale Anerkennung. Im Roman wird dieser Aufbruch spürbar. Das Mädchen orientiert sich daran.

Sie reisen viel durch Mittel- und Osteuropa. Wie definieren sich die Frauen dort heute? Können Sie Vergleiche mit dem Westen anstellen?

Da ich schon seit 1968 im Westen lebe, kann ich nicht genau das heutige Denken und Leben der Frauen in Mittel- und Osteuropa nachfühlen, aber ich sehe, dass sich die Frauen dort einerseits ihr Selbstbewusstsein bewahrt haben, andererseits wird zu wenig der versklavende Aspekt der Konsumgesellschaft reflektiert, der neue alte Schönheitsmythos zum Beispiel. In den Zeitschriften und im Fernsehen wird nicht der Alltag der Frauen behandelt, sondern irgendwelche dummen Sternchen werden zum Maßstab des heutigen Frauseins erhoben. Es braucht einen zeitgenössischen Roman mit einer Protagonistin wie mein staunendes Mädchen, die sich darüber mokieren würde. In Bratislava gibt es übrigens schon seit über zehn Jahren eine Gruppe von intellektuellen Frauen um den Verlag Aspekt, die genau darüber schreiben, wissenschaftlich feministisch und auch literarisch.

Gespräch: Michaela Kovacova

Lesung um 19.30 Uhr im Haus der Kulturen und Generationen im Milanhorst 9 am Schlaatz, begleitet von einer slide show der slowakischen Fotografin Lucia Nimcová.

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