Kultur: Kleidsam
Emine Sevgi Özdamar las im Literatursalon der fabrik
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Nein, das geht doch nicht! Vorlesen. Die eigene Geschichte, das eigene Buch, die Verarbeitung der eigenen Kindheit. Nachdem Emine Sevgi Özdamar 1990 ihr erstes Buch „Mutterzunge“ veröffentlicht hatte, wurde sie zu Lesungen eingeladen und sollte im Rampenlicht das laut vorlesen, was sie doch leise aufgeschrieben hatte. Es erschien ihr unmöglich.
Als bühnenerfahrene Schauspielerin war sie es gewöhnt, Texte zu interpretieren, sie sich anzueignen, in sie hineinzuschlüpfen, als wären sie ein Mantel. In der Türkei, wo sie geboren wurde, hatte sie eine Schauspielschule besucht, Mitte der 70er Jahre kam sie als Regieassistentin an die Volksbühne, mit Benno Besson arbeitete sie in Paris, bevor sie von Claus Peymann engagiert wurde. Sie hatte auf der Bühne gestanden, Stücke geschrieben und inszeniert. Um aber die eigenen Bücher vorlesen zu können, musste sie sich erst selbst austricksen. Sie sah sich mit den Augen der Regisseurin an, bemerkte die Körpersprache der Autorin, die kleinen Gesten der Hände beim Vorlesen.
Nach einer einstündigen Lesung aus ihren Romanen „Die Brücke vom Goldenen Horn“ und „Seltsame Sterne starren zur Erde“ am Dienstagabend in Literatursalon der fabrik, erzählte Özdamar, wie sie lernte, auch die eigenen Geschichten als Kleidungsstücke anzusehen. Die Kunst, von sich Abstand zu nehmen, die sie das Theaterspiel lehrte, ist auch ein Grundzug ihrer Bücher, die vor allem eins verarbeiten: die autobiografischen Erfahrungen einer Türkin, die Mitte der 60er Jahre als Gastarbeiterin nach Westberlin kommt, um in einer Fabrik zu arbeiten und die doch lieber Schauspielerin werden will. Auf dem Weg vom Wohnheim zum Fabriktor lernt die junge Frau Zeitungsschlagzeilen auswendig und versucht, die Sätze im Alltag anzuwenden. Solch surreale Szenen werden im Buch von den Protagonisten achtlos beiseite geschoben. Den Lesenden prägen sie sich als brillante Momentaufnahmen ein, die schlaglichtartig und überaus genau den Prozess der Eingewöhnung in ein fremdes Land beschreiben. Der beobachtende Blick der Protagonistin kreuzt sich mit dem der Lesenden, die das Vertraute, die deutsche Sprache und die Berliner Umgangsformen, vorgeführt bekommen als etwas zu Hinterfragendes.
Die Unbedarftheit des jungen Mädchens, das erzählt, entpuppt sich mit jedem Satz als analytische Beobachtungsgabe, die sich stilistisch treffsicher zu artikulieren weiß. Das ist oft komisch und immer spannend. In den Sesseln des kleinen Cafes wird viel gelacht und mit anhaltender Neugier zugehört. Denn die Erzählungen von Özdamar laden zur Identifikation ein. „Ich wollte das Türkisch-Deutsche sich in einer Sprache, einem Nichtverstehen begegnen lassen“, sagt Özdamar. Sie führt nicht das Fremde vor, sondern verführt dazu, mit liebevoller Distanz auf die Welt zu schauen. Auf die Männer zum Beispiel. „Manche trugen den Frauen, neben denen sie gingen, ihre Taschen, und sahen so aus, als ob sie nicht mit diesen Frauen verheiratet waren, sondern mit diesen Taschen. Sie gingen durch die Straßen, als ob das Fernsehen sie gerade filmen würde.“
Wenn die vielfach ausgezeichnete Autorin mit ihrem türkischen Akzent ihre Geschichten liest, werden sie wieder zu ihren Kleidern. Die türkischen Sequenzen perlen wie Wasser leicht aus ihrem Mund, während sich einige deutsche Worte immer noch wie Brocken quer stellen. Ein Kopftuch sind ihre Sätze nie. Und es macht schon staunend, angesichts der erneut aufgebrochenen Integrationsdebatten daran erinnert zu werden, dass die Bücher von Özdamar bereits in den frühen 90ern erschienen sind. Sarrazin hat sie vermutlich nicht gelesen, ebenso wenig wie seine Anhänger. Sie sollten es tun. Lene Zade
Lene Zade
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