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Kultur: Klick Zum Erinnern

Die Ausstellung „Kindheitsbilder“ des Brandenburgischen Literaturbüros zeigt im HBPG Alltagsfotografie in Brandenburg seit 1848

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Der Raum öffnet sich wie ein begehbares Fotoalbum. Die Aufnahmen aus 150 Jahren Alltag in Brandenburg sind an den blaugrünen Wänden wohlsortiert und exakt beschriftet angebracht. Auf kleinen Fotoecken kann man beim genauen Hinsehen Ort und Datum erkennen. Der Besucher wird förmlich hineingesogen in diesen lebendigen Zeitstrahl. Geschichte lässt sich wohl kaum empfindsamer, zärtlicher und aufwühlender erzählen als durch Kindergesichter. Unverfälscht spiegeln sie Freude, Neugierde, Langeweile, Angst und Pein wider.

Beim Betrachter der 300 zumeist privaten Fotos, die ab heute im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte (HBPG) zu sehen sind, ist man selbst hin- und hergerissen zwischen Lachen und Erschrecken. Da sieht man ein Mädchen auf einer Pute reiten, ein anderes steht zwischen zwei Hunden: Den kleineren hat sie im Kinderwagen unter eine Decke gepackt. Offensichtlich lässt er alles über sich ergehen. Gegenüber hängt ein Foto von 1935, auf dem am Weihnachtsbaum Vater mit Sohn posieren. Der Junge ist in eine Uniform gesteckt und hat das Gewehr geschultert. Sein Blick unterm Stahlhelm geht ins Leere. Dieses Weihnachtsbild verströmt frostige Kälte.

Die Fotos erzählen über unbeschwerte und belastete Kindheiten durch die Zeitenwenden. Dieses „kollektive Album“ zeigt, dass sich auch über Gesellschaftsordnungen hinweg bestimmte Rituale erhalten. So standen die Jungs vom Großen Militärwaisenhaus 1928 vor Reichpräsident Hindenburg genauso stramm wie die Pioniere von Golzow 1962 vor dem DDR-Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht.

Kurator Peter Walther vom Brandenburgischen Literaturbüro, der in anderthalb Jahren 10 000 Fotos von 300 Brandenburger Familien gesammelt hat, gelang eine geschickte Auswahl. Bildaussagen verdichten sich oder laden zum Vergleich ein. Alles wirkt wohlkomponiert. Es gibt zehn Komplexe, die sich nach dem Sichten des Sammelsuriums erst allmählich herauskristallisierten. Natürlich gibt es die naheliegenden Kapitel über Familie, Freunde, das Spielen. Spannend sind aber auch Themen wie „Schule und Gemeinschaft“ oder „Kindheit in Uniform“. Oder die Mobilität: mit Kindern auf Holzkarren, Seifenkisten oder bei Muttern auf dem Rücken in der Kiepe.

Eher selten wurden zu den Fotos auch Geschichten mitgeliefert, so Peter Walther beim gestrigen Pressegespräch. Doch die laufen oft genug im eigenen Kopf ab. Der Betrachter wird zum Mitspieler des Erinnerns. Diese Ausstellung ist geradezu eine Einladung zum Gespräch der Generationen. Zu einigen der Fotos ist auch mehr zu erfahren, wie über das von Martina Bernhöft. Man sieht sie als Kind mit ihrer Freundin auf dem Königsweg in Kohlhasenbrück: im August 1961, von ihrem Vater heimlich aufgenommen. Zwischen ihnen ist Stacheldraht ausgerollt. Die Mädchen haben immer gemeinsam auf der Straße gespielt, bis über Nacht die Freundschaft auseinandergerissen wurde. 1963 musste Martina Bernhöft ihr Haus verlassen: Es wurde abgerissen, wie zwei weitere vom Königsweg, die zu Potsdam gehörten. Als sie nach der Grenzöffnung wieder den Königsweg aufsuchte, war dort ein kleiner Wald. Etwa fünf Meter neben der Stelle, wo einst ihre Haustür war, stand nun ein Holzkreuz. Es erinnerte an Willi Marzahn, der dort 1966 auf der Flucht erschossen wurde.

Überraschend ist die gute Qualität der Bilder: allesamt Reproduktionen, um eine einheitliche Präsentation zu ermöglichen. Zu verschieden waren Qualität und Formate der Originale. Nur das älteste von 1848 wird im Original gezeigt: eine zehnköpfige Apothekerfamilie aus Prenzlau – allesamt mit zugekniffenen Gesichtern. Kein Wunder. Schließlich musste die Silberplatte früher ewig belichtet werden. Das hieß quälend langes Stillstehen. Manche Fotografen zwängten Kinder in Gestelle, dass sie nicht zappelten. Auch das ist zu sehen, wenn man genau hinschaut. Und so sieht man auch in sehr ernste Kindergesichter, die wenig Spaß an der Tortur des Porträtierens hatten.

„Das Tropfen der Zeit, laut wie das Klicken der Kamera. Ein Schuss durch den Körper, ein innerer Schrecken ...“ Die literarischen Texte von Antje Ravic Strubel, die zwischen die Fotos gestreut sind, schreiben die Gedanken fort.

Bis 12. Januar, Am Neuen Markt 9, Eintritt 4 /erm. 2 Euro. Der Katalog mit allen Fotos kostet im HBPG 22 Euro

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