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Kultur: „Komm gut rüber!“

Die Potsdamer Schriftstellerin Antje Rávic Strubel blickt mit etwas Abstand auf den Jahreswechsel

Stand:

Am Neujahrsmorgen sah Potsdam aus wie letztes Jahr am ersten Januar: ein bisschen erschöpft, ein bisschen froh, blass und still. In den Cafés brunchten Gäste, und vor dem Rathaus Babelsberg lag der Raketenabfall knöchelhoch. Ein Grund des Frohsinns mag sein, dass man sich jetzt für eine Weile keine Gedanken mehr machen muss, wie man Silvester verbringt. Das nächste Jahresende ist lange hin. Denn während bei Weihnachten die Entscheidung relativ einfach ist – mit oder ohne Baum, Gottesdienst oder Julklapp, Gansessen mit Freunden oder gar kein Fest, macht Silvester Schwierigkeiten. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass es stärker als Weihnachten einen Neubeginn markiert. Wir zelebrieren das, was kommt, und hinter uns häufen sich die abgelaufenen Jahre. Mit der Zeit wird man vorsichtig, vielleicht sogar demütig, was die Wahl der Silvesterfeier betrifft. Man beginnt, in dieser Nacht Zeichen zu sehen, Zeichen natürlich für das Gute, das vor einem liegt. Man versucht, das Zukünftige schon in der Gegenwart zu erkennen. Man liest es in der Art, wie die Raketen in den Himmel gehen (möglichst steil), wie die Böller krachen (möglichst laut), wie lange die Wunderkerzen durchhalten. Wer nicht ausgelassen ist, der wird es auch die nächsten 365 Tage nicht sein, so lautet die geheime Befürchtung. Die Rede ist von Selbstsuggestion, und nie ist sie so groß wie zu Silvester.

Das Seltsame daran ist, daß die Anstrengung, die richtige Feier zu finden, in keinem Verhältnis steht zu der Geschwindigkeit, mit der man sie vergessen hat. Wenn man kein Ritual aus der letzten Nacht des Jahres macht und beispielsweise nicht jahrein, jahraus kurz vor Mitternacht hinauf zum Schloss Sanssouci pilgert, um von dort aus das Feuerwerk über Potsdam zu sehen, kann es vorkommen, dass man nicht mehr weiß, wie man letztes Jahr Silvester verbrachte. Vielleicht wird Schloss Sanssouci deshalb immer beliebter. Sogar die unteren Terassen des Weinbergs waren diesmal voller Menschen. In den verhangenen Fenstern des Schlosses spiegeln sich die Raketen, verdoppeln sich die Silberschweife der Fontänen, die vor dem bleichen nächtlichen Park besonders intensive Funken sprühen. In allen Himmelsrichtungen gehen Feuerblumen auf, und man kann sogar die Hotels erraten, wo die prächtigsten gezündet werden.

Ohne ritualisiertes Feiern tauchen auf einmal nur die Jahreswechsel im Gedächtnis auf, die nicht so gut verlaufen sind. Ich erinnere mich deutlich an ein Silvester in der Psychologischen Station eines Krankenhauses, aber nicht an die Jahre davor oder danach, die alle mit dem letzten zu verschwimmen scheinen. Ich erinnere mich an Jahreswechsel mit sinnlosem Trinken oder sinnlosen Flirts, und an die zwei einzelnen Luftschlangen, die von der Deckenlampe auf dem Flur der Psychologischen Station hingen. Ich hatte eine Freundin besucht, die sich selbst dort eingewiesen hatte. Das Fest war früh zu Ende gegangen. Die Feiernden waren müde gewesen von den Medikamenten und von sich selbst, nur der alkoholfreie Sekt hatte nicht aufgehört, über die Ränder der Pappbecher zu schäumen. Gläser waren auf dieser Station nicht erlaubt. Bis zum Countdown hatten wir Brettspiele gespielt. Die Raucher kamen in kalte Nikotinwolken gehüllt von draußen zurück. Halb zwölf explodierte ein Luftballon, und alle hatten erleichtert gedacht, es wäre soweit.

Dass ich mit dieser Freundin schon lange nicht mehr in Kontakt bin, hat nichts mit dieser Silvesterfeier zu tun. Trotzdem habe ich den Verdacht, dass Silvesterparties so etwas wie eine Probe sind. Sie bauen sich vor einem auf als gewaltiger Berg, der Jahresendzeitberg, und spätestens oben zeigt sich, ob man mit den Menschen, mit denen man diesen Berg erklommen hat, auch wieder herunterkommt. Deshalb zögern viele, wenn es darum geht, sich für eine Party zu entscheiden. Am Ende ziehen sie es vor, von Party zu Party zu flüchten, weshalb es ein undankbares Vorhaben ist, selbst eine zu veranstalten.

Einmal hatten Freunde in einem Flachbau in der Berliner Vorstadt gefeiert, als es in der Berliner Vorstadt noch unsanierte Häuser gab und Parties noch Feten hießen. Ich stieß erst nach Mitternacht dazu. In den Räumen, die mit Kissen und Decken ausgelegt waren, hatte ein ahnungsvolles, erotisch aufgeladenes Halbdunkel geherrscht, das allerdings, sobald ich darin eintauchen wollte, zerriss. Statt einer Ahnung blieben mir nur der Alkoholdunst und das Adrenalin sich verströmender Körper. Sie hatten sich auf den Kissen zusammengeballt, einige tanzten. Alle waren sehr miteinander beschäftigt, während ich allein durch eine gekachelte Wüste aus Konfetti, Luftschlangen und Sektkorken streunte. Auf dem Buffett reihten sich Schüsseln, die meisten leer, aber ihr Inhalt hatte Spuren auf der Tischdecke hinterlassen. In einer Sandkuchenform schwamm Rotwein, und die Musik, die lief, war eine, die ich nicht verstand. Auch zu diesen Freunden fehlt mir heute jeder Kontakt.

Trotzdem weiß ich nicht, ob sich mein Verdacht bestätigen lässt. Die Wirklichkeit zeigt sich immer so, wie wir sie sehen möchten. Kürzlich erklärte mir eine Frau, die erst vor einigen Jahren aus Westdeutschland in die Berliner Vorstadt gezogen war, es würden mittlerweile viele nette Leute hier wohnen. Sie meinte Leute wie sie. Leute, die noch nicht hier gelebt hatten, als die Party im Flachbau gestiegen war. Meine Freunde damals fand ich sehr nett. Sie konnten nichts dafür, dass ich zu spät auf ihre Party kam. Was ich sagen will: Es waren die richtigen Freunde, es war nur der falsche Berg. Aber vielleicht hatte die Frau ihre Lage besser im Griff. Es interessierte sie nicht, was vorher hier gewesen war. Wer hier wohnte, bevor sie zugezogen war, lag außerhalb ihrer Vorstellung von „nett“. Sie war eine Ritualfeierin. Sie brachte ihre Leute mit. Sie hielt an ihnen fest, während ich meine immer wieder verloren gab. Seit ich die Schule verlassen habe, sind die verschiedensten Menschen durch mein Leben gezogen. Nicht mit allen, die verschwunden sind, habe ich Silvester gefeiert, aber es ist beruhigend, rückblickend zu glauben, dass es manchmal für das Verschwinden deutliche Zeichen gab. Dass es nicht grundlos und unmerklich geschah.

Dieses Jahr habe ich im Krongut Bornstedt gefeiert. Es war herrlich. Ein Anruf hatte genügt, um mir keine Gedanken mehr machen zu müssen. Wir waren zu zweit und wurden sanft durch die Nacht delegiert, gemeinsam mit uns völlig fremden Menschen. Brauerei, Weinstube und Malzboden waren üppig geschmückt, Glücksschweine, Knallbonbons, ein Feuer brannte im Hof, das Essen war gut, Büffelbier und Wein inklusive. Später stiegen Raketen in die mondhelle Nacht. Über den italienischen Mauern gingen Silberregen nieder, die sich mit den aufplatzenden Lichtblumen des Mövenpick Restaurants mischten, dahinter böllerte die ganze Stadt. Die Menschen, die mit uns feierten, waren meistens im Alter der Rolling Stones. Sie tanzten zur Musik der britischen Rockstars ebenso leidenschaftlich wie Eins-Zwei-Tip zum deutschen Schlager. Als Andrea Berg sang: „Ich bin mit dir so hochgeflogen, doch der Himmel war besetzt,“ sangen alle so inbrünstig mit, als wollten sie mir recht geben. Sie sangen, als hätten sie schon oft mit einem Menschen diesen Berg bestiegen, und als hätte dieser Mensch die Probe jedesmal nicht bestanden, und trotzdem waren sie gemeinsam wieder heruntergekommen. Einer von ihnen saß am Nebentisch. Er trommelte die ersten beiden Stunden des neuen Jahres ununterbrochen mit den Fingern gegen die Stuhlkante. Ein anderer rieb seine Hand über den Rand des Wasserglases, wie um dem Glas einen Ton zu entlocken, aber entweder war die Musik zu laut oder er machte etwas falsch. Vor der Tanzfläche saß eine Frau mit sorgfältig sortiertem Haar und ließ die pink lackierten Fingernägel gegen die in gleicher Farbe leuchtenden Lippen springen. Alle drei taten das pausenlos, klopfen, reiben, springen, ohne zu reden und nicht im Rhythmus der Musik. Und während sie damit beschäftigt waren, schienen sie sich schon nicht mehr daran zu erinnern. Noch während sie feierten, war der Abend bereits ausgelöscht. Was ich sagen will: Wir sind gut rübergekommen. Es war ein Silvester, das sich bruchlos in die übrigen einreihen wird. Ich sehe schon, wie es in der Erinnerung verschwimmt.

Die Schriftstellerin Antje Rávic Strubel schreibt an dieser Stelle alle drei

Monate nicht nur

über Potsdam. Foto: Zaia Alexander

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