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Kultur: „Krebsstation ist kein Todesabgesang, keine Totenklage auf ein System“

Milde bedeutet Verderben“, sagt Pawel Nikolajewitsch Rusanow am Anfang von „Krebsstation“. Milde und Verderben, das sind zwei Konstanten, die den berühmten Roman von Alexander Solschenizyn durchziehen.

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Milde bedeutet Verderben“, sagt Pawel Nikolajewitsch Rusanow am Anfang von „Krebsstation“. Milde und Verderben, das sind zwei Konstanten, die den berühmten Roman von Alexander Solschenizyn durchziehen. Jetzt bringen Sie diese Geschichte von Krankheit, Tod und Menschlichkeit auf die Bühne des Hans Otto Theaters. Was hat Sie gereizt, ausgerechnet diese Geschichte im Theater zu erzählen?

John von Düffel: Natürlich haben wir nach der sehr schönen Erfahrung der Zusammenarbeit von „Der Turm“ darüber geredet, wie es weitergehen kann. Nicht zu nah dran am Turm und doch mit einer ähnlichen Geschichtsträchtigkeit und Geschichtenhaltigkeit. Und dann hatte Tobias mir von seiner Lektüreerfahrung erzählt.

Tobias Wellemeyer: Ja, ich habe das Buch Anfang der 80er Jahre zum ersten Mal gelesen, in den Monaten, nachdem ich von der Nationalen Volksarmee entlassen worden war. Ich fühlte mich damals ziemlich fremd zu Hause. Und es war Frühling, auch so ein Frühling wie in dem Buch.

War Solschenizyns „Krebsstation“ in der DDR über den Buchhandel überhaupt erhältlich?

Wellemeyer: Nein, das gab es nicht. Wir hatten damals viele von Hand oder mit der Schreibmaschine abgeschriebene Bücher. So habe ich zum Beispiel Boris Pasternak gelesen. „Krebsstation“ las ich in der Rowohlt-Version. Ein Freund besaß die beiden Bände. Was mich fesselte, waren die Lichtverhältnisse im Buch, dieser Weg aus dem Dunkeln ins Licht und zurück.

Licht und Dunkel als Metapher für die Todeskrankheit Krebs und die Hoffnung, doch zu überleben? Und im Mittelpunkt stehen Kostoglotow und Rusanow?

Wellemeyer: Ja, die zentrale Figur Oleg Kostoglotow kommt 1955, also zwei Jahre nach dem Tod Stalins, aus einem stalinistischen Gefangenenlager in diese Krankenstation Nr. 13 im Krankenhaus von Taschkent und sagt: Hier möchte ich eigentlich gerne leben. Weil er so etwas Schönes, wie das Dasein auf dieser Krankenstation, noch nie erlebt hat. Da gibt es jeden Morgen etwas zu essen, und es gibt ein Bett mit einer Decke, mit der man sich zudecken kann. Und er fragt die Ärztin: Können Sie die Heilung nicht ein bisschen hinauszögern? Denn er will nicht zurück in das Straflager. Aber die Ärztin ist entsetzt: Willst du leben oder willst du sterben? Und er sagt: Ich weiß nicht. Das ist eine erschütternde Perspektive, die auch davon erzählt, dass bestimmte extreme Erfahrungen kaum vermittelbar sind.

Auf der anderen Seite Rusanow.

Wellemeyer: Der Funktionär Rusanow ist ein sehr machtbewusster, selbstsicherer Mensch. Ein sehr starker Mensch, wie wir in den Proben merken. Der den Dingen auf seine Art und Weise, ganz unerschrocken, als Stalinist, entgegen tritt und irgendwie damit auch durchkommt. Der aber auch das erste Mal konfrontiert wird mit den Grenzen seiner Macht und mit der eigenen Todesangst.

von Düffel: Und den Grenzen des Systems.

Wellemeyer: Und des Systems, genau. Die vielen einzelnen Biographien setzen sich zu einem Bild der Gesellschaft zusammen.

von Düffel: Ich hab das Buch vorher nicht gekannt und bin durch Tobias draufgestoßen. Ich war auch erst sehr skeptisch, weil ich dachte „Krebsstation“ ist eine Art medizinische Fortsetzung von „Archipel Gulag“. Und das ist eine düstere Vor- oder Nebenhölle, in die man da hinabsteigen muss. Dann war ich aber völlig überrascht, wie sehr es Solschenizyn gelingt, diese Vielstimmigkeit, von der Tobias sprach, auszubreiten. Überhaupt nicht ein politischer Pamphlet-Autor zu sein, der, mit allem Recht der Welt, einen gesellschaftlichen Zustand anklagt. Das auch, aber er macht es in einem erzählerischen Reichtum von Figuren, von Biographien, von Menschen, die er wirklich zum Leben erwecken kann vor dem Auge des Lesers und hoffentlich dann auch für uns auf der Bühne.

„Krebsstation“ ist vor allem aber auch eine Geschichte über den Tod.

von Düffel:  Ja, aber sie ist kein Todesabgesang, keine Totenklage auf ein System, sondern die Geschichte des Menschen Kostoglotow, der einen solchen Überlebenswillen hat, der nicht aufgibt sich zu streiten. Gleichzeitig ist da diese kuriose Perspektive auf Krankheit, auf das System. Das finde ich das Irre an der Figur Kostoglotow, dass er selbst im Krankenhaus aneckt. Gar nicht aus einem starken politischen Bewusstsein heraus, sondern weil als Mensch diese Ecken und Kanten hat.

Wellemeyer: Er kommt aus einer Gefängnissituation, wo er vollständig bevormundet wird, 24 Stunden am Tag, und das sieben, acht Jahre lang. Jetzt hat er endlich wieder ein Stückchen Leben erwischt und kann so überhaupt erst ein neues Selbstwertgefühl entwickeln. Wir können uns das gar nicht vorstellen; wir merken, dass wir uns das übersetzen müssen, wie immer beim Theater. Wir haben uns Dokumentationen, Bilder und Texte angesehen, haben auch in die Gedenkstätten in der Lindenstraße und der Leistikowstraße besucht, um zu erfahren: Wie sieht so eine Zellenwand aus? Wie fasst sich so ein Pritschenholz an? Die Distanz erzwingt ein gedankliches Verhältnis.

Übersetzen heißt ja auch immer, eine Aktualität zu schaffen. Wo haben Sie diese Aktualität bei „Krebsstation“ gefunden?

von Düffel: Kostoglotow gerät vom System Stalinismus, dem Lagersystem, in das System Medizin. Das ist ein System, das zum Beispiel für uns, auch in Hinblick auf Entmündigung von jemandem, auf die Reduktion von einer Person auf eine Nummer oder auf ein medizinisches Faktum, erlebbar ist. Das Lagersystem können wir uns bei allem Bemühen authentisch nicht vorstellen. Aber von dem medizinischen System, in das man geraten kann, hat man so schlimme Ahnungen, wenn nicht gar Erfahrungen. Das ist der Punkt, wo man das sehr an sich heranholen kann. Das kann auch emotional als Hebel funktionieren, weil man seine Ohnmacht gegenüber diesen Instanzen sehr stark erlebt.

Wellemeyer: Wo endet Fürsorge, und wo beginnt Bevormundung? Wie viel Freiheit brauche ich, und wo muss Kontrolle sein? Der Schauspieler Wolfgang Vogler und ich hatten das große Glück, ein sehr langes Gespräch mit Professor Georg Maschmeyer führen zu können, der im „Ernst-von-Bergmann“-Krankenhaus die Klinik für Hämatologie und Onkologie leitet. Wir konnten nicht einfach mit so einem Thema beginnen, ohne zu wissen, wie eine Krebsstation heute wirklich funktioniert.

Aber es geht doch in erster Linie um Theater. Wie Sie selbst sagten: Sie müssen das übersetzen.

Wellemeyer: Theater muss natürlich erfinden und behaupten. Trotzdem: Das Gespräch mit einem Fachmann erschien uns unabdingbar. Es wurde ein ungeheuer starker Vormittag. Wir kamen mit klopfenden Herzen. Maschmeyer hat das Gespräch sofort in die Hand genommen, das war sehr beeindruckend. Er hatte unser Stück gelesen und sofort erkannt, dass es sich in „Krebsstation“ um eine Gesellschaftsmetapher handelt, weniger um die Darstellung medizinischer Behandlungsprozesse. Er war empört über den bevormundenden Umgang mit den Patienten. Er spürte, dass die Ärzteschaft gesellschaftliche Machtstrukturen verinnerlicht hatte und repräsentierte. Zugleich standen sie unter großem Druck, einem erdrückenden Mangel an Medikamenten, an Optionen und Möglichkeiten zu helfen. Professor Maschmeyer hat uns die Krankheiten jeder einzelnen Figur erklärt.

Was beim Lesen von „Krebsstation“ auffällt, ist die Ehrlichkeit, mit der Solschenizyn erzählt.

von Düffel: Diese Ehrlichkeit von Solschenizyn ist geradezu entwaffnend und erschütternd. Weil er so viel Ungerechtigkeit erlebt hat und gleichzeitig so sehr versucht, diesen verschiedenen Biographien gerecht zu werden. Das ist fast übermenschlich an manchen Punkten.

Wellemeyer: Das finde ich auch ganz erstaunlich. Ich habe große Teile seiner Autobiographie „Zwischen zwei Mühlsteinen“ gelesen, über die Zeit nach seiner Ausbürgerung aus der Sowjetunion. Ich spürte, wie ich mich nachts darin festlas. Solschenizyn ließ sich niemals vereinnahmen, er blieb bis zu seinem Tod unbeugsam und streitbar.

Es gibt so viele Romane, was aber macht einen solchen Roman, wie „Krebsstation“, so besonders, dass sich aus ihm eine dramaturgische Theaterfassung destillieren lässt?

von Düffel: Für mich war ein Stichwort: Schwarzer Tschechow. Diese Figurenbeschreibungen, diese Balance von Figuren, bei der man mit ganz wenigen Federstrichen plötzlich so ein ganzes Leben spürt. Das kennt man eigentlich fast nur von Autoren wie Tschechow, vielleicht auch noch Gorki. Das hatte ich so nicht erwartet. So einen schwarzen Tschechow, schwarz wegen der Todesthematik. Das ist eben kein „Kirschgarten“, sondern das ist eine „Krebsstation“. Und die Figuren haben auch historisch eine genauer verortbare und von der Zeit stärker gezeichnete Geschichte. Es ist nochmal eine bösere Zeit.

Wie nehmen sich die Schauspieler dieser Vielschichtigkeit der Figuren Solschenizyns an?

Wellemeyer: In diese Figuren hineinzuwachsen und „hineinzuschwimmen“, ist ein Prozess. Natürlich hatten wir einen großen Respekt vor dem Thema und vor der Krankheit. Auf der Bühne wird viel gestorben, der Tod gehört zum Drama. Aber mit diesem Mythos Krebs umzugehen – da wird es persönlich. Plötzlich merkt man, wie viele von uns in ihrem persönlichen Umfeld mit der Diagnose konfrontiert sind. Diese Momente sind erschütternd, auch weil wir spüren, wie sehr wir uns nach außen verleugnen und verbergen.

Die Thematik Krebs im Theater? Glauben Sie nicht, dass das auch abschreckt?

Wellemeyer: Natürlich, es gibt eine Scheu. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass das Publikum es uns sehr zurückbestätigt, wenn wir mit unseren Stücken aufdecken, was der Alltag zudeckt. Wir möchten alle ermutigen, sich die Aufführung anzuschauen. Hinter dem Titel verbirgt sich eine ganze Welt.

Das Gespräch führte Dirk Becker

Premiere von „Krebsstation“ am Freitag, 23. März, 19.30 Uhr, im Hans Otto Theater in der Schiffbauergasse. Karten unter Tel.: (0331) 98 11 8

Tobias Wellemeyer, geb. 1961 in Dresden, ist seit Sommer 2009 Intendant und Regisseur am Hans Otto Theater. Wellemeyer ist verheiratet, hat eine Tochter und lebt in Potsdam. kip

John von Düffel , geboren 1966 in Göttingen, ist Dramatiker und Schriftsteller. Derzeit ist er Dramaturg des Deutschen Theaters in Berlin. John von Düffel lebt in Potsdam. kip

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