Kultur: Leben im Tanz
Die französische Gruppe Accrorap erzählt in „Douar“ über das Warten
Stand:
Ihre Körper sind in Mäntel gehüllt. Einer Tarnkappe gleich überdecken sie die Kraft und Einzigartigkeit der Menschen, die in ihnen stecken. Scheinbar haben sich diese acht Männer ihrem Schicksal ergeben: Gleichförmig trotten sie über die Bühne, die Hände gelangweilt in den Taschen, die Blicke gesenkt. Doch dann schält sich einer aus der uniformen Masse heraus, wirft seinen einengenden Kokon weit von sich, bäumt sich auf, springt wie ein wilder Tiger über die Bühne, sprengt alle Fesseln. Auch die anderen Männer nehmen nach und nach Gestalt an, zeigen ihr wahres Gesicht. Mit großer Spannung verfolgt das Publikum am Samstag in der fabrik dieses Wechselspiel: Tänzer wachsen aus sich heraus und fallen wieder in die Gruppe zurück. Es ist eine Riesenenergie, die dabei über die Bühne schwappt und zugleich eine große Traurigkeit, dass sie immer wieder eingedämmt wird.
Die französischen HipHoper der Gruppe Accrorap erzählen in dem Stück „Douar“ ihre eigene Geschichte – den Tanz der Straße. Hip Hop war für sie Überlebensstrategie, um der Enge ihrer Heimat Algerien zu entfliehen. Im Internet studierten sie die Technik, um sie nachzuahmen. Ein wahres Wunder, mit welcher Vitalität und Perfektion sie heute über die Bühne fegen, als seien ihre Körper aus Gummi und Stahl zugleich. Sie schrauben sich auf einer Hand in die Höhe, drehen in der Luft Piouretten, kreisen auf den Schultern wie ein Blitz um sich selbst. Dann wieder zittern ihre Körper wie Espenlaub.
Doch die atemberaubende akrobatische Perfektion ist nicht Selbstzweck. Hier wird über Menschen erzählt, über ihre Sehnsüchte und Zweifel, über ihr Woher und Wohin und über das Dazwischen. Denn Immigration heißt vor allem Warten. Und als Symbol dient den Tänzern um Choreograf Kader Attou – selbst Sohn algerischer Einwanderer – die bekannten großen Plastiktaschen mit Karomuster. Mal werden sie zu einer Bank aneinandergereiht, dann als Aussichtsturm übereinandergestapelt, schließlich wieder in die Hand genommen, um weiter zu ziehen. Ins Ungewisse. Dann stellen sie die Taschen beiseite, greifen zu metergroßen Fotos mit den eigenen, erwartungsvollen Gesichtern darauf. Totenstille, als sie diese Bilder vor sich ablegen und sie mit einer Rose bekränzen. Eine Szene, die an den Zivilkrieg von 1992 bis 2000 in Algerien erinnern soll, in dem viele junge Männer verschwanden und nicht wieder kehrten. Ihre Mütter gingen mit Fotos ihrer Söhne auf die Straße. Der Tanz erinnere aber auch an die vielen Leute, die nach Europa gingen und dort scheiterten, sagen die Tänzer in der anschließenden „Zuschauerschule“. Doch auch ohne Erklärung suggerieren die Bilder Verlust und Trauer.
Doch am Ende dieses energie- und emotionsgeladenen Abends siegt nicht die Melancholie. Im Takt des euphorisch klatschenden Publikums tanzen diese Kraftpakete der Beweglichkeit noch einmal alles, was die Straße ihnen eingeschrieben hat. Ein Leben zwischen Anpassung und Ausgrenzung, bei dem der Tanz wie ein wuchtiger Befreiungsschlag siegt. Die Mäntel sind abgeworfen, schöne, strahlende Männer explodieren im warmen Bühnenlicht.
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