Kultur: „Man hatte keine Angst vor dem Tod“ „Wider das Vergessen“
im Filmmuseum
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Nachdem man ihnen Namen und Eigenheit genommen, ihnen durch prügelnde Kapos zu verstehen gegeben hatte, dass man sie nach Belieben schlagen könne, lernten die Häftlinge des KZ Flossenburg den Hunger kennen. „Hunger nicht als Bedürfnis, sondern als Krankheit“, sagte der Maler, Bildhauer und Schriftsteller Vittore Bocchetta am Sonntag im Filmmuseum, wo man, wie überall, der Opfer des NS-Staates und des Holocaust gedachte.
Bocchetta war Ehrengast, Zeitzeuge und Hauptperson einer kurzen Filmpremiere mit dem Titel „Wider das Vergessen“. Vorbereitet und gedreht hatten ihn Claus Dobberke und Stefan Mehldorn mit doppelter Absicht. Einmal sollte das Schicksal des aktiven Widerstandskämpfers (89) aus Verona festgehalten werden, andererseits gibt es Absprachen, diesen Dokumentarfilm in den Schulen Brandenburgs und in Nordrhein-Westfalen einzusetzen, was seine exakte Länge von dreißig Minuten erklärt. Neben dem Veranstalter „Il Ponte“ waren ein Vertreter der italienischen Botschaft und der Bürgermeister von Detmold (wo es den „Freundeskreis Vittore Bocchetta“ gibt) zu dieser Veranstaltung gekommen. Den Ehrengast selbst begrüßte ein voller Saal mit stehenden Ovationen.
Auf Wunsch von „Il Ponte“ erklärte sich der Künstler bereit, für dieses Filmprojekt das KZ Flossenburg mit seinem Außenlager Hersbruck noch einmal zu betreten, „ohne jeglichen Groll“, wie Marie-Luise Döring in ihrer Rede versicherte. Er hatte seine Erlebnisse bereits in dem Buch „Meine fünf verdammten Jahre“ festgehalten. Claus Dobberke fasste die Zeit nach 1940 noch einmal zusammen, warnend, dass „die neuen Nazis heute ihre Sieg-Runen noch versteckt“ hielten. Auch deshalb sei Zeitzeugenschaft wichtig.
Der Film selbst, mit exzellenten Xylophon- und Oboenklängen unterlegt, ist ein eindrucksvolles Zeitdokument: Nach Verhaftung und Folter in Italien wurde Vittore Bocchetta im Sommer 1944 nach Deutschland ausgeliefert. In Flossenburg verwandelte ihn eine eingespielte Maschinerie schon nach Stunden „in ein Nichts“. Scheußlichkeiten, Schikanen, Leben oder Tod. Ein Latrinen-Erlebnis wirkt besonders nachhaltig: Da kam ein Zug verhungerter Gestalten „mit ausgelöschten Augen“ heran, die ihre Bewacher nur leicht antippen mussten, bis sie in den offenen Graben fielen. Es war unvermeidlich, sich bei der eigenen Notdurft auf sie zu stützen. Er selbst konnte zwei Monate des harten Winters 1944/45 durch ein Täuschungsmanöver in der Krankenbaracke überstehen, sonst wäre er erfroren. Mithäftlinge hatten ihm die Pantinen geklaut: „Es gab keine Solidarität unter uns!“, sagte er, was sein Landsmann Primo Levi („nur die Stärksten überlebten“) für Auschwitz übrigens bestätigte. Auf dem letzten, dem Todesmarsch, gelang ihm mit einem anderen Häftling die Flucht. Weil sie sich nahe des Zuges hielten, fand die SS sie nicht, man feuerte ein Paar Salven in die Luft und meldete sie als „erschossen“.
„Geschichten wie aus einem Roman“, kommentierte der Italiener. „Man hatte keine Angst mehr vor dem Tod, die Frage war nur, wann er kommt“. Viele dieser Erlebnisse hielt er in Bildern fest. Für Hersbruck schuf er die Skulptur „Wider das Vergessen“: eine stille, in sich gekrümmte Gestalt voller Tragik. Dort findet man auch eine Gedenkplatte aus Stein. In ihm ist ein Spruch aus der Bibel gemeißelt: „Die Rache ist mein, spricht der Herr“. Gerold Paul
Gerold Paul
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