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Von Gerold Paul: Märchenhafte Kühnheit

Beifallsstürme für die farbenprächtige Welt vom „Drachenreiter“ in der Reithalle A

Stand:

Wenn die Menschen derart brachial auf dem Vormarsch sind, fliehen nicht nur die Ratten in Gullys, auch die guten alten Drachen haben es sauschwer. Ihr letztes Refugium wird irgendwo bei Schottland vermutet. Haben sie noch eine Chance? Aber wozu brauchte man sie eigentlich, wenn sie in Europa das Gegenteil von dem bedeuten, was man in China über sie sagt? Da „Glücksbringer“, hier Monstren, höchstens von Helden wie Siegfried, Georg oder Michael niederzuringen.

Für die Kinderbuch-Autorin Cornelia Funke stellte sich das „Drachen-Problem“ halbe-halbe dar. Sie meint, diese feuerspeienden Echsen könnten auch hierzulande Glück und Zufriedenheit bringen, deshalb müssten sie vor der Ausrottung bewahrt werden.

In einer Fassung von Moritz Seibert und Marco Dott hatte ihr Buch „Drachenreiter“ am Sonnabend in der ausverkauften Reithalle A des Hans Otto Theaters eine vielbejubelte Premiere, obwohl die Zielgruppe „8+“ deutlich in der Unterzahl war. Cornelia Funke erzählt ihre Geschichte wie eine Initiation, dem Dalai Lama oder Parsifal vergleichbar: Der Junge Ben (Friedemann Eckert) lebt mutterseelenallein in einem hohen Gemäuer, trifft mit dem Drachen Lung und dem Koboldmädchen Schwefelfell (Jenny Weichert) zwei dieser Schottland-Flüchtlinge, die ihre letzte Zuflucht am „Saum des Himmels“ suchen, aber vom allesverschlingenden Oberdrachen Nesselbrand (Gundolf Nandico) verfolgt werden. Dieser hat einen Homunculus (Simon Brusis, auch Ratte) mit dem Outfit Peter Schlemihls als Erz-Spion in die fliegende Reisegruppe eingeschleust. Überhaupt wimmelt es in Andreas Rehschuhs farbenprächtiger, aber etwas träger Inszenierung nur so von grellen Fabelwesen: Ein hüpfender Steinzwerg mit Obelix-Hosen, Herr Ratte als Wegweiser, die wunderbare Projektion des Dschinn-Orakels, die Goldgestalt Nesselbrands mit seiner Posaune auf dem Schnürboden, und selbstkomponierten Jazz-Sentenzen, Drachen können das eben! Da verblasste die menschliche Personage (besonders die herbeigezwungene Figur der Autorin) doch sehr.

Nachdem nun etliche Flüge und mehrere Bewährungsstationen (sie wurden selten so gespielt) ausgestanden waren, erkennt der bisherige Mitmacher Ben, dass er als „Drachenreiter“ auserkoren sei, den posaunenden Verfolger zu besiegen: Warum Friedemann Eckert diesen überzogenen Wutanfall bekam, bevor ihn initiierendes Einverständnis überfiel, bleibt rätselhaft. Erzählt wurde ja ohnehin mehr von den Situationen her, als von den Figuren. Später, beim Endkampf, besiegen alle Freunde diesen goldenen Bösewicht, Ben aber wird zum heldischen Drachentöter verklärt – wirklich sehr heutig!

Vielleicht sollte sich dieser Trittbrett-Flieger etwas mehr an der hohen und höchst vergnüglich anzuschauenden Darstellungskunst des ewig quasselnden, aber auch alles mitspielenden Schwefelfell-Mädchens orientieren, sie gab mit Abstand die beste Figur. Einschichtig blieb auch Josip Culjak als behäbiger Silberdrache, der Existenzprobleme zwar behauptete, aber nie spielte. Zu loben sind die schönen Szeneneinfälle, gleich ob Höhenflug oder Tele-Kommunikation durchs Erdrohr nach ganz oben bei Spion Fliegenbein, der sich so wundersam zum Guten wandelt. Nur die Koboldine traute ihm nicht, eine der wenigen dramatischen Handlungen in einem Spiel, dem mittendrin die Puste auszugehen schien.

Natürlich honorierte das Publikum die Farbenpracht der fast zweistündigen Inszenierung, die märchenhafte Kühnheit von Grit Walthers Kostümwelt. Hervorragend ist das felsige Bühnenbild (Eva-Maria Westervelt) gedacht und behandelt: Ob Wüste, Gebirge oder Kanalisation, stets stellt es auf ganz seltene Weise die „Einheit des Ortes“ her, Chapeau! Beifall, Vorhänge fast ohne Ende. Eines mit Drachenglück? Einfach mal reinschauen, denn so viel Theatralisches auf einmal sieht man doch eher selten.

Gerold Paul

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