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HANS OTTO THEATER: Menschen, die leben wollen

So viel Ängste, so viel Lebensgier: Die Uraufführung von „Krebsstation“ am Potsdamer Hans Otto Theater.

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Da steht er. Wieder einmal an die Wand gedrängt wie so oft in seinem Leben. Wieder gibt es kein Zurück. Seine Stimme wird weich, fast kindlich flehend. Er, der lernen musste, dass Ehrlichkeit eine scharfe Waffe ist, die ihn selbst töten kann, öffnet sich und sagt, dass er doch nur bleiben möchte. Hier, in diesem Krankenhaus im zentralasiatischen Taschkent, auf der Krebsstation „Nummer 13“. Bleiben, auch wenn seine Heilung so vielversprechend verläuft, weil draußen auf ihn die ewige Verbannung wartet. Kostoglotow, ein Mensch, der leben will!

Es ist einer dieser stillen und so erschütternden, so ehrlichen und berührenden Momente, die sich in einem festfressen. Der Blick in dieses Totenhaus, das Regisseur Tobias Wellemeyer am Freitagabend auf die Bühne des Hans Otto Theaters gestellt hat, ist ein ehrlich-gnadenloser. Über drei Stunden setzt Wellemeyer die Zuschauer im fast ausverkauften Saal schonungslos dem Treiben auf der Krebsstation mit der Nummer 13 aus. Menschen, so bleich und elend, die der Krebs zerfrisst. Menschen, die diesen Krebs bekämpfen. Menschen voller Ängste, voller Lebenshunger, Lebenslust und Lebensgier. Menschen, die noch träumen und in denen sich immer noch Menschlichkeit regt. Menschen, die leben wollen.

Es ist ein Wagnis, das Wellemeyer und der Dramaturg John von Düffel eingegangen sind. Sie haben den Roman „Krebsstation“ des Literaturnobelpreisträgers Alexander Solschenizyn auf die Bühne geholt. Ein Roman, in den Solschenizyn seine eigenen Erfahrungen als Häftling des russischen Straflagersystems Gulag, seine Erfahrungen als Krebspatient hat einfließen lassen. Ein vielstimmiges Gesellschaftsbild im Russland Mitte der 50er Jahre, wo kurz ein Hauch von Tauwetter nach dem Tod Stalins zu spüren war. Ein großer Roman. Und man kann Tobias Wellemeyer und John von Düffel nur dankbar dafür sein, dass sie dieses Wagnis eingegangen sind. Beide haben schon für die Erfolgsinszenierung „Der Turm“, nach dem Roman von Uwe Tellkamp, zusammengearbeitet. Zwei, die sich vertrauen, die sich aufeinander verlassen können. Was das für das Theater bedeuten kann, konnte man am Freitag bei der Uraufführung von „Krebsstation“ erleben.

John von Düffel hat die Vielstimmigkeit des Romans, das Sinfonische, auf kammermusikalische Größe reduziert. Das Herz der Geschichte, das sich aus dem menschlichen und dem gesellschaftlichen Drama zusammensetzt, lässt er dabei fast noch deutlicher, hörbarer und wilder schlagen. Wellemeyer vertraut voll auf die Textarbeit von Düffels. Keine Knalleffekte, kein überbordendes Tamtam, keine überdramatischen Gestelztheiten. Hier spricht der Text, die Geschichte, die starken Figuren. Dabei vertraut Wellemeyer auch auf seine Schauspieler. Und die spielen so beseelt wie lange nicht mehr.

Da ist Wolfgang Vogler in der Rolle von Oleg Kostoglotow. Der politische Sträfling, der wegen seiner Schmerzen fast auf allen Vieren in das Krankenhaus gekrochen kam und dem es jetzt fast schon wieder blendend geht. Vogler spielt ihn zart und wild, verzweifelt und verständnisvoll. Kein Klischeeheld, der sich trotz seiner sieben Jahre Lagerhaft und bevorstehender Verbannung ungebrochen seinem Schicksal stellt und die Ungerechtigkeiten und Falschheiten dieser Welt anprangert. Es gibt einen Moment in dieser Inszenierung, da macht sich dieser Kostoglotow krumm, bittet, bettelt, fleht um Verzeihung. Nicht nur, weil es um ihn allein geht. Aber es ist wieder einer dieser Momente, der einen zutiefst erschreckt, packt und sich in einem festfrisst.

Da ist Jon-Kaare Kope in der Rolle von Pawel Nikolajewtisch Rusanow. Ein Funktionär, Parteikader, den seine Krankheit nur für kurze Zeit erschrecken lässt. Jon-Kaare Kope spielt ihn berechnend und ängstlich, kaltblütig und jämmerlich, immer aber auch als einen Menschen, der Leben will. Da ist Friedemann Eckert als 16-jähriger Djomka, den der Krebs den linken Unterschenkel wegfrisst und der doch so kindlich-hoffnungsvoll bleibt. Da ist Roland Kuchenbuch als Bibliothekar Schulubin, von Rusanow nur verächtlich „Uhu“ geschimpft. Es gibt da diesen Moment, da bricht alles aus Schulubin heraus. All seine Verfehlungen, seine Selbstbeschuldigungen, seine Verzweiflung. Und wie Roland Kuchenbuch diesen Schulubin spielt, das erschreckt zutiefst, packt einen und frisst sich fest. Und dann ist da Andrea Thelemann.

Sie spielt die Ärztin Donzowa, die Leiterin der Bestrahlungsabteilung. Eine stille und so starke Frau. Ein heilender Engel, an den hier vielleicht niemand mehr wirklich glaubt. Ein Engel, der den Tod selbst im Körper hat.

Alexander Wolfs Bühne zeigt diese „Krebsstation“ als ewigen Flur, kalt und steril. Willkommen ist hier niemand. Ein Wischlappen reicht und alle Spuren vom Leben und Sterben sind verschwunden. Hier stehen mal die Betten der Krebspatienten, mal ist es einer der zahlreichen Gänge im Krankenhaus. Und die Treppe wirkt wie ein Hamsterrad. Eine Zwischenwand trennt für kurze Zeit nur das Behandlungszimmer ab. Kaum Requisiten, hier sprechen die Menschen und ihre Geschichten. Und das im gekonnten Wechsel zwischen den ganz persönlichen Erzählungen und dem großen Mühlrad der Zeitgeschichte. Wellemeyer und von Düffel verzichten dabei auf allzu viel erklärenden Ballast. Die historische Dimension von „Krebsstation“ – der Mensch als Metastase des unheilbaren Geschwürs Gesellschaft – erzählt sich durch die Schicksale der Patienten. Aber gerade durch diese Schicksale, ob nun das von Kostoglotow, von Rusanow oder von Schulubin, bekommt das alles eine große Tiefe. Doch all das relativiert sich vor dem eigentlichen Herrscher in dieser Welt: der Krankheit, die wir Krebs nennen. Das so Gegenwärtige dieser Inszenierung. Diese Konfrontation über drei Stunden zu ertragen, verlangt viel. Doch sie gibt so viel zurück.

Am Ende steht Melanie Straub als Ärztin Vera Hangart verzweifelt am Bühnenrand. Sie hatte Kostoglotow angefleht, bleiben zu dürfen. Sie hatte ihm, nun da er entlassen wurde, angeboten, bei ihm zu bleiben. Nur so lange, bis eine endgültige Lösung gefunden wurde. Ein so wunderschöner und zarter Moment, in dem sich die Zuneigung der beiden wie ein leichtes Licht zeigt. Doch Kostoglotow kehrt mit dem Zug ins Lager zurück, in seinem Herzen dieses feine, so wärmende Licht voll Menschlichkeit. Vera Hangart bleibt zurück. In das Dunkel, das sich über die Bühne legt, gellt ihr herzzerschneidender Schrei. Ein Moment, der sich in einem festfrisst.

Wieder am 8. April, 19.30 Uhr, im Hans Otto Theater in der Schiffbauergasse

Dirk Becker

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