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Kultur: Mit strengen, dunklen Wintern

Philippe Meyers sehr eigenwillige und nicht von Fehlern freie Sicht auf vier Jahrhunderte französisch-preußischer Beziehungen

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Es ist ein Parforceritt, den Philippe Meyer in seinem Buch „Frankreich und Preußen“ durch „vier Jahrhunderte gemeinsamer Geschichte“ auf nur 237 Seiten betreibt. Kein Wunder, dass da wesentliche Bilder verzerrt vorbeihuschen und manch wichtiges Ereignis ganz aus dem Blick gerät. Der Autor, von Beruf Mediziner und Mitglied der französischen Akademie der Wissenschaften, reichert dabei sein Buch mit umstrittenen Wertungen und manch kleinen, teils sogar hübschen Fehlern an.

Zum Beispiel die napoleonische Besetzung 1806 und die Befreiungskriege 1812/13: König Friedrich Wilhelm III. habe „das Ende des Aufstiegs Preußens herbeigeführt“, ein Zwischentitel spricht sogar von „Preußens Vernichtung“. Durch sein zögerliches Verhalten gegenüber Napoleon sei der König mitverantwortlich am frühen Tod seiner Gemahlin Luise, behauptet Meyer. Dabei ist Luise doch an einer Lungenentzündung und „Brustfieber“ gestorben. Königin Luise ritt laut Meyer dem Dragonerregiment Ambach voran, das es nicht gab. Vielmehr war Luise Ehrenoberst des Regiments von Ansbach-Bayreuth. Den Freischärler Ferdinand von Schill habe der König „verurteilt“, so Meyer. Aber Friedrich Wilhelm III. hatte ihm doch 1807 eigens die Aufstellung eines Freikorps gestattet. Die von Napoleon besiegten und gedemütigten Preußen ließen mit der Gruppe um Stein und Scharnhorst „einen ersten, wenn auch schwachen Ausbruch von Patriotismus“ erkennen – so „schwach“, dass er zur grundlegenden Reformierung des preußischen Staates führte und dann im Bündnis mit Russland zu den erfolgreichen Befreiungskriegen. Dass dafür die am 31. Dezember 1812 geschlossene Konvention von Tauroggen der Ausgangspunkt war, bleibt unerwähnt. Am Ende erreichte 1815 auf dem Wiener Kongress das laut Meyer da schon längst „vernichtete“ Preußen mit 278 000 Quadratkilometern Fläche und 10,4 Millionen Einwohnern seine bis dahin größte Dimension.

Zum Widerspruch reizende Wertungen und vermeidbare Fehler könnten für nahezu jeden Abschnitt in dem Buch des französischen Mediziners genannt werden, der einige Jahre in Berlin am Max-Delbrück-Centrum für molekulare Biologie tätig gewesen ist. Die Reformation, deren Beginn 1517 die Thesenveröffentlichung Luthers im sachsen-anhaltinischen Wittenberg war, ging laut Meyer von Thüringen aus. Jeder lang gewachsene ostpreußische Bauernbursche, rheinländische Handwerker oder englische Schäfer, den Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. durch Zwangswerber für seine Elitetruppe der „Langen Kerls“ wegfangen ließ, musste zuvor in Frankreich gedient haben, ist da allen Ernstes zu lesen. Wo Napoleon 1806 in Potsdam welche würdigenden Worte über König Friedrich II., ob im Stadtschloss, in Sanssouci oder in der Garnisonkirche, der Nachwelt überliefert hat, bringt der Autor kräftig durcheinander. Philippe Meyer soll nicht übel genommen werden, dass er Preußen trotz dessen gemeinsamer Grenze mit Frankreich als „relativ weit entferntes Land mit strengen, dunklen Wintern“ bezeichnet, das laut Vorwort des Pariser Hochschullehrers Michael Werner bis 1918 vornehmlich von Sorben, Kaschuben und Masuren bewohnt wurde.

Nun sollen Autor und Buch aber nicht in Grund und Boden gestampft werden: Immerhin hält er eine durchaus einleuchtende „rote Linie“ für die französisch-preußischen Beziehungen. Von den aus Frankreich ausgewiesenen Hugenotten, die den kulturellen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Aufschwung Preußens mitbestimmten, über die Aufklärung (Lumieres) und auch bis zur durch Napoleon erzwungenen gesellschaftlichen Modernisierung war das westliche Nachbarland stets Impuls- und Ideengeber für die Deutschen. Im 19. Jahrhundert kehrte sich dieses Verhältnis um, als Preußen und Deutschland unter Bismarcks straffer Führung wirtschaftlich und vor allem militärisch überlegen wurden. Die zweite Umkehrung dann ab dem Ersten Weltkrieg, als Frankreich mit seinen Verbündeten die Dominanz zurückerlangte. Heute, so Meyer, gibt es eine neue Sichtweise, die zu einer freundschaftlichen, immer enger werdenden Zusammenarbeit geführt hat. Sie setze aber „eine genaue Kenntnis der gegenseitigen Beziehungen voraus“.

Klar gesagt, zu deren Vermittlung kann Philippe Meyers „Frankreich und Preußen“ in der jetzt vorgelegten Form nicht beitragen. In einer nochmaligen, kritischen Aufarbeitung der Quellen, durch Fehlerkorrektur und im Überdenken strittiger Wertungen bestände dafür aber durchaus eine Chance. Dazu müssten allerdings auch die Lektorin und die Übersetzerin, deren Geschichtskenntnisse offensichtlich nicht ausgereicht haben, ihre Arbeit präzisieren. Der Berliner „be.bra.wissenschaftverlag“, der einen Ruf zu verteidigen hat, sollte in diesem Fall durchaus einen Historiker für die Durchsicht des Manuskripts und als Berater heranziehen. Erhart Hohenstein

Philippe Meyer: Frankreich und Preußen, be.bra.wissenschaftverlag, Berlin 2010, 238 Seiten, 22 Euro

Erhart Hohenstein

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