
© Andreas Klaer
ZUR PERSON: „Musik, die verteidigt werden muss“
Benoît Dratwicki, künstlerischer Leiter des Centre de Musique Baroque de Versailles, über die Achse Potsdam - Versailles und die schwierige Aufgabe, französische Barockmusik zu vermitteln
Stand:
Monsieur Dratwicki, fühlen Sie sich eigentlich in Potsdam mit seinen Parks ein wenig zu Hause, wie in Versailles?
Nein, eigentlich sind Versailles und Potsdam sehr verschieden. Ich reise viel und dabei ist mir klar geworden, wie sehr Versailles andere europäische Städte beeinflusst hat, wie unterschiedlich die einzelnen Städte mit dem Einfluss aber umgegangen sind. Ich fühle, dass man durch die Art, wie das Schloss und die Stadt Potsdam angelegt sind, hier einen viel direkteren Zugang zur Natur hat, zum offenen Raum, aber auch zur Einsamkeit und zur Intimität. Ich habe den Eindruck, dass man hier das hat, was Marie Antoinette Ende des 18. Jahrhunderts verwirklicht hat. Hier aber wurde dieser Geist schon 20 bis 30 Jahre früher umgesetzt.
Potsdam war Vorreiter für Versailles?
Ja, im Umgang mit der Natur – und auch bei diesem Verhältnis zum Menschlichen, das Marie Antoinette dann in der Parkgestaltung umgesetzt hat: sehr viel einfacher, schlichter. Man hat hier in Potsdam nicht diesen Aspekt des göttlichen Königs wie bei Ludwig XIV. Mir ist klar geworden, dass nicht Versailles einen Teil der Anlage von Potsdam inspiriert hat, sondern umgekehrt.
Sie sind Künstlerischer Leiter des Centre de Musique Baroque de Versailles. Worin liegt der Unterschied zwischen dem deutschen und dem französischen Barock?
Der grundlegende Unterschied besteht darin, dass wir keine reine Musik haben.
Sie meinen reine Musik wie bei Bach?
Voilà, es gibt keinen Bach. Bei uns ist die Musik verbunden mit dem Text, mit dem Theater oder mit dem Tanz. Eventuell noch mit der Malerei. Wir kennen in Frankreich nicht das reine Vergnügen des Kontrapunkts, einer Fuge. Das ist der große Unterschied, den ich versuche zu erklären, wenn ich reise und im Austausch mit den Programmleitern bin. Man darf nicht nach reinen Musikwerken des französischen Barock suchen. Sobald man ein Werk spielt, muss man auch den Text finden, das Theaterstück, die Choreografie.
Es ist die Idee des Gesamtkunstwerks?
Ja, das ist es. In Frankreich ist die Musik ein Bestandteil eines Ganzen. Das heißt, selbst die Konzert- und Kammermusik bleibt mit dem Kontext, wo sie gespielt wird, verbunden. Sei es mit dem Hof, mit der königlichen Familie. Es gibt zum Beispiel viele Versailler Werke, die voll von Allegorien sind mit Göttern und Göttinnen, die im Hintergrund an den Wänden des Salons dargestellt sind.
Ihr Centre hat es sich zur Aufgabe gemacht, die französische Barockmusik zu fördern. Warum ist das nötig?
Frankreich ist das Land, das die meisten Ensembles für Alte Musik hat. Sei es für Kammermusik, für Chor oder Orchester. An die Hundert Ensembles, was enorm viel ist. Wir haben damit viel mehr als Italien oder Deutschland oder England. Sogar mit Abstand die meisten, zwei oder dreimal mehr als Deutschland. Vor 30 Jahren sah es so aus: Alle Ensembles, die sich gründeten, spielten Händel, Verdi, Bach, Telemann und Purcell. Selbst die französischen Ensembles hatten keinen Zugang zum französischen Repertoire.
Woran lag das?
Das hat mehrere Gründe. Die Musik des Ancien Régime ist mit der Revolution in Misskredit gefallen. Rameaus Oper „Castor und Pollux“ hat man zum Beispiel erstmals 1919, just nach dem Ersten Weltkrieg, öffentlich aufgeführt. Bis in die 80er-Jahre war die Barockmusik nicht sehr bekannt. Das Centre entstand 1987 mit der Idee, dieses nationale Erbe zu fördern, es für Orchester und Musiker zugänglich zu machen, zu forschen, Werke zu editieren und auch Aufführungen zu veranstalten. In Zukunft werden wir uns verstärkt den internationalen Produktionen widmen. Heute stehen in Frankreich zwar Rameau, Lully und Charpentier auf den Konzertprogrammen. In den Nachbarländern sieht das aber anders aus.
Bekommt die französische Barockmusik also noch nicht überall die Wertschätzung, die sie Ihrer Meinung nach verdient?
In Italien spielt man nie französischen Barock, es gab keine Rameau-Oper seit 1770. In Deutschland ist das ein bisschen anders. Aber es ist wirklich immer noch eine Musik, die verteidigt werden muss. Vor allem in Deutschland. Sie haben hier eine sehr starke Kultur der Gelehrten-Musik, was dazu führt, dass die französische Musik aus jener Zeit sehr gut gemacht sein muss, um überhaupt Interesse zu wecken. Ansonsten wird sie immer als schlichter, musikalisch ärmer als Bach oder Telemann angesehen. Man muss vermitteln, dass das eigentliche Interesse der Musik in etwas Anderem liegt. Im Tanz, im Text, im Theater.
Am Wochenende hat Rameaus Balletoper „Pygmalion“ in Potsdam Premiere. Was ist das für ein Werk?
Für mich ist „Pygmalion“ eines der schönsten Stücke Rameaus und gleichzeitig eines der intimsten. Dieses Werk scheint mir eine gute Synthese des Könnens von Rameau zu sein: 1748 entstanden, charakterisiert sie seine zweite Schaffensperiode: Die Musik war komplexer, subtiler – im starken Gegensatz zu „Armide“. „Pygmalion“ aber dauert nur 50 Minuten, also mussten wir das Programm ergänzen. Wir haben uns zusammen mit der Choreografin Natalie van Parys für eine Art Prolog für „Pygmalion“ entschieden. Ich habe sofort an ein Werk gedacht, das ich sehr liebe, aber das nie gespielt wird: „La muse de l’Opéra“ von Clérambault. Er war der größte Komponist des Genres französische Kantate, für eine Stimme und Begleitung. Um auch dem Tanz seinen Platz einzuräumen, haben wir Jean Fery Rebel „Les caractères de la danse“ ausgewählt. Die Idee dabei: In zehn Minuten sollen die Tänzer alle Charaktere zeigen, die sie darbieten können. Alle großen Tänzer der Pariser Oper haben ihr Debüt mit den „Caractères de la danse“ gegeben.
Zurück zu Potsdam und Versailles: Heute wird die Städtepartnerschaft beider unterschrieben. Was erhoffen Sie sich davon?
Ich wünsche mir, dass diese Städtepartnerschaft nicht nur eine symbolische Sache, eine Prestigeangelegenheit ist, sondern dass es in der Folge regelmäßige Treffen gibt und dass man im Rahmen dessen gemeinsame Projekte aufbaut, sei es eine Aufführung oder ein ganzes Festival. Und so auch in Versailles: Dass man dort präsentiert, was in Potsdam alles stattfindet. Übrigens hat ja letztlich die Zusammenarbeit zwischen den Musikfestspielen und dem Centre erlaubt, die Städtepartnerschaft zu beschleunigen und jetzt offiziell zu verankern. Aus Anlass des Festivals wird sie nun unterzeichnet. Das ist in gewisser Weise ja gut, dass die Musik diese Kraft gegenüber der Politik hat.
Das Gespräch führte Grit Weirauch
Benoît Dratwicki, Jahrgang 1977, ist promovierter Musikwissenschaftler und Spezialist der Pariser Oper des 18. Jahrhunderts. Er widmete sich unter anderem der Notentranskription und der Veröffentlichung von Werken französischer Barockmusik. Seit 2001 arbeitet er für das Centre de Musique Baroque de Versailles (CMBV), dessen künstlerischer Leiter des Centre er seit 2006 ist. Bei den diesjährigen Musikfestspielen stand er als Programmberater der Direktorin Andrea Palent zur Seite.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: