Kultur: „Oh-Ton! – Achtung, Aufnahme!“
Das „Festival für radiophone Dokumentation“ fand in der Schiffbauergasse und auf dem Tiefen See großen Zuspruch
Stand:
Herrlicher Sonnenschein und böige Winde begleiteten das Team von „Oh-Ton“ am Wochenende bei ihrem Feature-Festival Nummer eins. In und vor der fabrik sowie auf drei Huckleberry-Finn-Flößen brachte das Quintett vierundvierzig der schönsten Features im wahrsten Sinne zu Gehör.
Der Untertitel „Festival für radiophone Dokumentation“ verweist wie nebenbei auf den Realismus-Anspruch bei der Auswahl: Neun ARD-Stationen schickten ihr vermeintlich Bestes nach Potsdam, Anja Stenzel, Natalia Grüner, Ewelina Donejko und Simon Wöhr (Fachhochschule Potsdam) als O-Ton-Stamm-Besatzung siebten dann noch einmal alles durch, was Welt oder Dorf bedeutete. Dörte Fiedler leitete das Projekt. Schön, dass die gut besuchten Veranstaltungen kostenlos blieben, so war auch das eine oder andere für Flaneure dabei.
Wer mit „Indiana Jones“, „Tante Polly“ oder einem anderen Floß in die Bucht neben dem Hans Otto Theater hinausscheppern wollte, musste unterschreiben, dass dies auf eigene Gefahr geschähe. Platz war dort für acht stereophone Kopfhörer. Auch im Bauch der fabrik hörte man solche Töne, man saß auf dem Gestühl, hatte aber auch die Möglichkeit, die Features im Liegen zu erleben, denn überall im abgedunkelten Raum fand sich passendes „Bettzeug“. Vertikal rauschte man, ganz nach Wahl, durch die Tiefen der Zeit, horizontal berührten einen alle möglichen Themen und Orte, mal hatte man räumliche, mal gedankliche Einheiten, immer jedoch „Welt“ vor sich.
Also begab man sich mit sieben anderen Unterschriften (das Neugeborene an Bord zählte noch nicht) auf eines der so erfreulich langsamen Flöße und fuhr hinaus. Dann ging der Motor aus und das Feature von Frieder Butzmann „Es stand ein Haus in Ostberlin“ an. Er selbst, wie günstigenfalls alle Autoren, sollten ja möglichst präsent sein. Manche Hörer saßen draußen in der Sonne, drinnen zog es, aber man hatte vorsorglich an Decken gedacht. Das O-Ton-Feature von 2005 erzählt von dem märchenhaften Fund eines Koffers, der „posthume“ im ehemaligen Haus der Jungen Talente, Berlin, entdeckt wurde. Es handelt sich um Mitschnitte aller möglicher Veranstaltungen. Philosophie-Zirkel, Singebewegung, Junges Theater, der Rechenschaftsbericht eines „Abschnittsbevollmächtigten“ der Polizei. Überall „glühende Herzen“, viel Funktionärsdeutsch, aber auch „Mandolinen und Mondschein“. Der Autor hatte sein Material (leicht satirisch kommentiert) in Blöcken zusammengestellt, allerdings wirkte es ob des Realismus-Primats manchmal zusammengeschnippelt und irgendwann ermüdend. Sätze wie „Verbindung von Ökonomie und Kunst“ oder „Überwindung der Traditionen“ versteht heute sowieso keiner mehr. Dem Sozialisten Stefan Heym gehörte das Schlusswort: Die Herrschenden der DDR hätten „einfach nur blöd regiert“, was der Floß-Gemeinschaft natürlich gefiel. Außen vor sah man das gelbe Wassertaxi und ein Ruderboot für achtzehn Eilige: Der Pauker vorn gab den Ton an. „Unternehmensberatung“ stand dran. Die also mussten rudern!
Wieder an Land, lief open air gerade das beeindruckende Feature „Männer imMutterland“ von Helmut Kopetzky. Es setzt sich intensiv mit der Vertreibung Sudetendeutscher 1946 auseinander. Summa: Man kann die Veranstalter nur zum Weitermachen ermuntern.Gerold Paul
Gerold Paul
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