zum Hauptinhalt

Kultur: Räume öffnen sich

Ein Mix, der stimmte. Der Zustrom an Besuchern ebbte kaum ab. 20 000 könnten es gewesen sein

Stand:

Wenn sich das schläfrig-sterile Areal der Schiffbauergasse in eine quicklebendige und vielbesuchte Kreativzone wandelt, dann ist es mal wieder so weit, dann hat Potsdam seine „Stadt für 24 Stunden“. Die Leute darin wohnen in seltsam gezimmerten Häusern, welche sie in schönster Tautologie „Raumkörper“ nennen. Freundlich sind sie, jederzeit ansprechbar und auch dienstbereit, egal ob es um Wohlfühl-Yoga, Stukkateurauskünfte oder Sonnenfinsternisse geht. Perlentaucher und Jeans-Doktoren wurden aktiv, von Wortklang und guter Ernährung, von fallenden Nabu-Blättern und dauerhafter Haarentfernung ging die Rede. Ganz schön bunt, und überall war Künstlervolk dabei, im T-Werk, mit spanischem Geist auf dem Schirrhof, in Reithalle oder Hans Otto Theater, wo man sich wunderte, dass die nachmittägliche Vorstellung von „Romeo und Julia“ restlos „voll“ war. Ausverkauft kann man ja nicht sagen, denn das Phantom der 24-Stunden-Stadt mit den zweiunddreißig „Raumkörpern“ und achtzig Einzelveranstaltungen hatte sich auch an seinem zweiten Jahres-Tag vorgenommen, alle Kultur-Offerten kostenlos zu machen. Parkhaus-Gebühren waren nicht dabei. Schade, denn die Berliner Vorstadt war bis zur Glienicker Brücke hin restlos zugeparkt.

Die Konditionen wie gehabt: HOT-Intendant Tobias Wellemeyer darf sich immer noch rühmen, Erfinder dieses idyllischen Markttreibens genannt zu werden. Zwanzigtausend Köpfe hat er diesmal erwartet, doch wer zählt schon die Häupter seiner Lieben! Allein bei einer ganz unschuldigen Waschhaus-Führung waren schon Dutzende dabei. Und dann erst die Veranstaltungen: kostenlose Musik, kostenlose Lesungen, kostenlose Theatervorstellungen und etliche Programme für Kinder lockten natürlich Besucher in Scharen. Auch die musealen Tore hatten bestens Besuch. Wer sollte das bezahlen? „Eintritt frei“ hat ja seinen Preis. Das Kulturamt gab zwar auch diesmal sein Sümmchen dazu, aber den größten Teil hatten die Veranstalter selber zu tragen, schließlich ging es ja auch ein bisschen um „Eigenwerbung“. So steht man auch im Jahr Zwei vor einem Paradox: Die Stadt will solche „Events“, mag aber höchstens eines mitfinanzieren, die Anrainer und Raumkörper-Städtebewohner möchten mehr und öfter davon, doch niemand ist in der Lage, alles ehrenamtlich und oft noch zum Nulltarif zu leisten. Mehr als „einmal im Jahr“ geht also nicht, dann ist wieder Ebbe, dann kehren wieder Ruhe ein und Ordnung in Potsdams denkmalgeschütztes Vorzeige-Areal. Ein Narr, wer hier an amtliche Tetzelei oder gar an „kulturellen Ablass“ dächte. Tetzel? Dieser Ablassprediger wäre doch eine ganz nette Figur in diesem Planspiel, besser jedenfalls als diese langstieligen Soldaten-Uniformen, die man zwischendrin mit Lanze und Musketen so traurig exerzieren sah.

Keine Frage, dieser Rundum-Marathon war es ein Riesenerfolg für alle. Ein Fest eben, so wenig alltäglich wie Kaiserwetter. Tobias Wellemeyer denkt nun daran, dieses Spektakel „zur Tradition“ zu machen. Bloß nicht! Elastisch bleiben und dafür sorgen, dass nicht dieser eine Klopper mehrmals, sondern viele Klöpperchen das Riesenareal öfter bevölkern. Die Allianz von Kultur und den tautologen „Raumkörpern“ zeigte doch, welche Potenzen frei (!) werden, wenn man sich zusammenrauft und einfach loslegt.

Die Phantasie gibt’s zum Nulltarif und für alle! Vielleicht würde das sogar mehr Unabhängigkeit von den Geldtöpfen der Stadt bedeuten, ein „Zaster-Laster“ war ja da. Auch an „Kaltem Hund“ und „Hirschkalbfetzen“ mangelte es nicht, so wenig wie an Lümmelwiesen oder Wiesenlümmeln. Künftig weniger gemetzelt und getetzelt! Gerold Paul

FILME SCHIEBEN

Beachtlicher Andrang herrscht im Glasfoyer des Neuen Theaters am frühen Abend zur szenischen Lesung des 2007 erschienenen Debütromans „Film B“ von Tobias Schwartz. Dass sich der Berliner Autor mit der Schauspielerin Jule Böwe und dem Ensemblemitglied des Hans OttoTheaters Holger Bülow zwei namhafte Künstler zur Unterstützung dazugeholt hat, ist dem Festivalrahmen angemessen, jedoch sicher auch dem Buch selbst geschuldet. Denn statt einer erzählten Handlung, statt greifbaren Episoden und Dialogen ziehen sich durch den Roman die sprunghaften, kruden und bisweilen ermüdenden Gedankenströme und Monologe der drei Protagonisten, die alle in Berlin leben, miteinander bekannt sind und sich dennoch nicht kennen. Da ist der Psychiatriepatient Lars, dem Holger Bülow eine erfreulich lebhafte Stimme leiht, die perfekt die im Buchtext eher wenigen humorvollen Akzente trifft. Da ist die von Jule Böwe souverän und mit viel Esprit interpretierte Gaby, ein naives Mädchen vom Lande, das in die Großstadt zieht und selbstverständlich ein Popstar wird. Und da ist schließlich Stefan, ihr Exfreund, der in vorbezeichneter Psychiatrie als Nachtwächter arbeitet und dessen Monologe schnell und etwas überscharf vom Autor selbst vorgelesen werden.

Während sich nun auf der kleinen Lesebühne der Stoff in seiner offenkundigen Theatralik viel besser entfalten kann, wirkt die Gesamtdarbietung in ihrer Gestauchtheit doch leicht polternd. Spaß macht es sicher, dem Wechselspiel der drei Akteure aufmerksam beizuwohnen, wenn diese sich selbst und im nächsten Augenblick ihr jeweiliges Gegenüber reflektieren, also permanent in ihrer eigenen Gedankenwelt bleiben und dort weiter ihre Filme schieben. Dass man dann jedoch etwas überrascht ist, wenn etwa Gaby plötzlich den autistischen Lars gleich mit nach Hause nimmt, er sofort ihr Partner ist, sie vom Fleck weg zum drogenabhängigen Popstar avanciert und Stefan nicht anders kann, als aggressiv sexistisch zu werden und endlich Amok zu laufen - diese mangelnde Wahrhaftigkeit also mag der Kompaktheit der gut halbstündigen szenischen Lesung von „Film B“ noch stärker zum Nachteil gereichen, als sie es im Roman bereits tut. Dennoch ist es die Bühnen- und Vorlesesituation, die erst den nahtlosen Übergang von der Normalität zum Wahnsinn deutlich macht und zeigt, wie fruchtbar das Grundthema dieses Buchs zweifellos ist.Daniel Flügel

ABLEGEN MIT OH-TON

Dieses Herz schlägt tatsächlich kräftig in diesen mindestens 24 Stunden zwischen Samstag und Sonntag, in der der Kulturstandort Schiffbauergasse zur Stadt für eine Nacht wird und im Kleinen zeigt, was im Großen möglich ist. Theater, „fabrik“, Waschhaus, T-Werk, Kunstraum und andere ansässige Kulturbetriebe des Geländes bauen zusammen mit über 30 Partnern aus dem Umland eine Miniaturstadt aus phantasievoll ausgestalteten Erlebnisräumen, so genannte Raumkörper, die das Gefühl aufkommen lassen, dass hier Kunst, Kreativität und Spontanität förmlich in der Luft liegen. Wo soll man zuerst stehen bleiben? Gerade war man von einem der vier Hörboote gestiegen, gemietet und umfunktioniert vom zum zweiten Mal stattfindenden Oh!-Ton Festival, einziges Festival Deutschlands für Radio-Features, akustische Dokumentationen und Klangerlebnisse, initiiert von Studenten der FH Potsdam. Die Macher des Festivals, das parallel zur Stadt für eine Nacht läuft und sich vor allem auf dem Gelände der „fabrik“ abspielt, hatten die Floße der Station Huckleberrys kurzerhand umfunktioniert und boten die Möglichkeit, in regelmäßigen Abständen mitten auf der Havel via Kopfhörern für etwa eine Stunde abzutauchen in eine Welt aus Klangcollagen, Radiofeatures oder Hörspielen.

„Amore Pattex“ beispielsweise ist die offene Auseinandersetzung mit der großen Liebe, die das Loslassen unmöglich macht. Und so schaukelt Hörboot II sanft auf dem Wasser, während Anna-Lilli (28) oder Erna (92), zum Reden bewegt von Produzent Andreas Fischer, aus dem ganz privaten Gefühlsfundus berichten und alle Insassen an Bord sichtlich bewegen.

Da muss man sich, zurück an Land, erst einmal sammeln, denn hier herrscht ein reges Kommen und Gehen und die Geräuschkulisse ist gigantisch. Im Biergarten läuft gerade das Hörstück „Release“, im Raumkörper jamen einige Jugendliche und auf der zugegeben etwas befremdlich bespielten Bühne des Waschhauses wird Hip Hop getanzt. Doch Eile ist geboten, denn in der „fabrik“ wird gleich noch einmal im Rahmen von Oh-Ton Lucia Glass ihre Produktion „The Sound of it“ performen. Ein fast vollständig abgedunkelter Saal, in dem auf etwa fünfzig locker im Raum verteilten Stühlen fünfzig Kopfhörerpaare auf ihren Träger warten, der sich während der nächsten halben Stunde nicht nur einmal die Frage stellt „Soll ich oder soll ich nicht?“ oder erschrocken zusammenzuckt und angespannt loslacht. Über die Kopfhörer nämlich werden Bewegungen, Geräusche und Stimmen im Raum suggeriert, die nicht tatsächlich existieren. Das beweist der verstohlene Blick umher. Eine befremdliche und gleichzeitig euphorisierende Erfahrung, die nach dem Stück schnell miteinander verhandelt werden muss, denn anschließend gibt es in der Reithalle das Stück „I Wanna Die For You“ der Oxymoron Dance Company zu sehen, das den Betrachter in einen erneuten und ganz anderen Gefühlsrausch versetzen wird.

Das Konzert der deutschen Band Jersey, die Gitarrensounds ganz unprätentiös mit elektronischem Sound vermixt, läuft leider genauso parallel und wird darum verpasst wie das Gastschauspiel „Die Perser“ im T-Werk, eine Inszenierung des 3. Jahrgangs Schauspiel der Hochschule für Musik und Theater in Rostock.

Doch diesem Umstand ist kein Vorwurf zu machen, denn das hier ist nun mal die Stadt für eine Nacht und das kulturelle Angebot möchte zeigen, dass auch in Potsdam die Qual der Wahl herrscht. Ob dem tatsächlich immer so ist, wäre zu überprüfen. Vielleicht sollten alle Beteiligten auch in den restlichen 364 Tagen des Jahres mit etwas lauterer Stimme auf sich aufmerksam machen, um den Potsdamer und alle anderen Kulturinteressierten endlich einmal öfter hinterm Ofen hervorzulocken.Andrea Schneider

Gerold Paul

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })