Kultur: Reise in die Erinnerung
Der Potsdamer Stefan Mehlhorn drehte den Film „Über die Schwelle“ über Walter Ruge
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„Als die Hitlers 1933 an die Macht kamen, wollte ich aus Deutschland weg, in die Sowjetunion, in die Heimat aller Werktätigen. Ich wollte Russe werden“, erzählt Walter Ruge vor der Kamera. Und er machte sich auf in das Land Stalins. Nach Moskau ging er, wurde 1934 sowjetischer Staatsbürger, arbeitete beim Aufbau der Metro mit, nach dem Besuch einer Ingenieur-Fachschule wurde er in einem Röntgeninstitut tätig. 1941 hatte „die Heimat aller Werktätigen“ eine besondere Überraschung für ihn bereit: Stalins Häscher machten bei ihrer großen Säuberungsaktion auch vor ihm nicht Halt. Er wurde verhaftet, ins Gefängnis nach Omsk gebracht. Dort wurde ihm im April 1942 das in Moskau gefällte Urteil mitgeteilt: zehn Jahre Arbeitsstraflager. Von Omsk, wo er bis 1949 einsaß, ging es nach Krasnojarsk, in die Verbannung zum Polarkreis am Jenissei.
Warum der seit 1958 in Potsdam lebende Walter Ruge dies erleiden musste, wurde ihm, dem „treuen Freund der Sowjetunion“ nicht bewusst. Man bezichtigte ihn einfach konterrevolutionärer Umtriebe. „Hunderttausende unschuldige Menschen wurden von der „roten Inquisition“ unter diesem Vorwand beschuldigt und vernichtet. Das hatte mit Kommunismus nichts zu tun“, sagt Walter Ruge vor Schülern der Friedrich-Wilhelm-von-Steuben-Gesamtschule Potsdam. Der heute 92-Jährige wurde zum Hauptdarsteller des Dokumentarfilms „Über die Schwelle“.
Der junge Potsdamer Stefan Mehlhorn, Regiestudent an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg, hat von dem ehemaligen Filmemacher Claus Dobberke über das spannende und bewegende Leben Walter Ruges erfahren und ihn schließlich überreden können, mit ihm einen Film zu drehen. Gestern Vormittag wurde er im überfüllten Filmmuseum in einer Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung von den Gästen mit großem Applaus aufgenommen. Es ist geplant, den Streifen, dem bereits das Prädikat „Besonders wertvoll“ verliehen wurde, im SWR sowie auf anderen Fernsehsendern zu zeigen. Der Film wird auch als DVD erhältlich sein.
Stefan Mehlhorn hat sich mit Walter Ruge vor gut zwei Jahren auf eine mehrwöchige Reise begeben, zurück an Orte, die Teil des Lebens des über Neunzigjährigen wurden, an denen er schmerzliche, demütigende Erfahrungen machen musste, die auch von glücklichen Erlebnissen erfüllt waren. Er lernte in Sibirien seine spätere Frau Irina kennen, die mit ihrer Mutter dorthin verbannt war.
Es ist beeindruckend, mit welcher Sensibilität Stefan Mehlhorn sich der Biografie und dem Menschen Walter Ruge näherte – mit einem sehr liebevollen Verstehen. „Ich glaube, das war nur möglich, weil wir, das Produktionsteam, eine noch unverbrauchte Generation sind.“ Das heißt: unverkrampft, neugierig, tolerant und respektvoll vor einem ereignisreichen langen Leben. Ruhig und ohne Effekthascherei kommt „Über die Schwelle“ daher. Beeindruckende Bilder von den Landschaften, besonders von der Weite des Jenissei, schuf Mehlhorns Kommilitone Lars Drawert mit der Kamera. Und dazwischen hören wir immer wieder die Stimme Ruges: eine traurige, wenn er über die furchtbare Einsamkeit im Lager erzählt, eine fröhliche, wenn die Heirat mit Irina Thema ist. Walter Ruge hat einen unbeugsamen Lebenswillen, er ist voller Optimismus.
1958 kam er mit seiner Frau nach Deutschland, in die DDR, nach Potsdam, wo seine Mutter wohnte. Er wurde Foto-Umschüler bei der DEFA. Bis zum Leiter des Großfotolabors arbeitete er sich hoch. Regisseure entdeckten sein schauspielerisches Talent. So wurde Ruge in Filmen für kleine Rollen verpflichtet, als sowjetischer Offizier, als Hitler, Thälmann oder als Pfarrer. Und dann geht der Film auch auf seine große Leidenschaft ein: das Radfahren, das ihn in viele Länder Europas führte.
Zum Schluss bleibt dennoch die Frage: Warum kam er in die post-stalinistische DDR, die zahllose Gegner des Regimes wegsperrte, auch Menschen, die einfach nur zu ihren Familien in den Westen wollten ... Hatte er nicht genug von der kommunistischen Utopie? „Ich will nicht die DDR zurückhaben. Da hatte ich eine Menge Auseinandersetzungen mit der SED“, sagte er einem Gespräch. „Ich habe mich mit den jetzigen Verhältnissen angefreundet. Aber so richtig zu Hause bin ich hier nicht.“ Ruge ist heute Mitglied der PDS. „So ganz ideal ist sie zwar nicht, aber sie ist die einzige linke Partei, die ich akzeptiere.“ Warum der Traum vom sozialistischen „Paradies“ sich nicht erfüllen konnte, auch darüber schweigt der Hauptdarsteller im Film. Die Filmemacher haben ihn danach nicht gefragt, auch die Gäste im Filmmuseum nicht.
Im GNN Verlag erschien das Buch „Treibeis am Jenissei“ von Walter Ruge, 19 Euro.
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