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Kultur: Revolutionär

Christian Führer las in der Truman-Villa

Stand:

„Wir wollten weder Revolution machen noch die DDR abschaffen“, behauptete Christian Führer, von 1980 bis vor kurzem Gemeindepfarrer der legendären Nikolaikirche zu Leipzig, am Dienstag in der Truman-Villa am Griebnitzsee. Die Friedrich Naumann Stiftung hatte eingeladen und obwohl die Abschiednahme für Michael Jackson zeitgleich im Fernsehen lief, war der Lichthof auf allen drei Etagen bestens besetzt. Anfragen an Christian Führer aus Südkorea und Jerusalem über die „friedliche Revolution 1989“ zeigen sogar weitergehendes Interesse an seinen Erfahrungen, schließlich lautet der Untertitel „Die Revolution, die aus der Kirche kam“. Nun kennt man das Schlagwort „Staat und Revolution“ noch aus der Schule, aber Kirche samt einer Revolution, die man gar nicht wollte?

Halb lesend, halb in freier Rede schilderte der Ruheständler zuerst seine Kindheit und Jugend im elterlichen Pfarrhaus. Er studierte in Leipzig Theologie, wurde 1968 ordiniert, zwölf Jahre später war er Gemeindepfarrer zu St. Nikolai, mitten im Zentrum vom Leipzig. Theologisch fühlte sich der „Revolutionsmacher“ stets Jesus und der Bergpredigt verbunden, er wollte immer an der Seite der Armen und Entrechteten sein, was er auch von den Theologen heute erwartet.

Vor 1989 hieß das, sich für Umweltgruppen und Bausoldaten einzusetzen, die unter dem Dach St. Nikolai Schutz und Betätigung fanden. Nie, so der Referent, sei in der DDR eine Kirche gestürmt worden, man habe ihre Schwelle stets respektiert. Sein Konzept war deshalb einfach: Unter der Trutzparole „Rückgrat zeigen ist unsere Bestimmung“ führte er als erster in der DDR die Friedensdekade ein und schuf mit dem Konzept „Offene Kirche“ einen Freiraum für alle, auch für Atheisten und Genossen. Trotz innerkirchlicher Kritik, wie „den Staat nicht zusätzlich reizen“, hielt er an den Friedensgebeten fest, die es bis heute gibt. Viele Kirchen machten es Leipzig dann nach.

Gegen Drohungen und Ängste wappnete er sich mit Jesus, der gesagt hat, seine Jünger sollten das Salz der Erde sein, sich also „einmischen“. Führers Idee einer Kirche von unten war Erfolg beschieden: Mit großer Eindringlichkeit schilderte er, wie am 9. Oktober 89 mit einer friedlichen, aber scharf bewachten Demonstration der Durchbruch kam: Die biblische Losung „Keine Gewalt“ hatte die Uniformen besiegt, alle späteren Protestgänge im Land, so der Pensionär, hatten es dann leichter. „Eigentlich sollte dieser Tag unser Nationalfeiertag sein“, so Führer. Wenn ihn am Dienstag auch manchmal der protestantische Kampfstachel Luthers zu löcken schien, den Heldenstatus verweigert er noch heute.

Das Publikum war beeindruckt und stellte viele Fragen. Was heute am dringlichsten sei? Die Gleichstellung von Mann und Frau, gleicher Lohn in Ost und West sowie die Verringerung der Arbeitslosigkeit. Als Bürgerrechtler ohne Parteibuch beklagte er die zunehmende Kluft zwischen Demokratie und kapitalistischer Wirtschaftsform, äußerte sich verwundert über die große Aufmerksamkeit, die man ihm allerorten entgegenbringt. Als das Publikum nach gut zwei Stunden immer dezidierter nach Staat, Kirche und Revolution zu fragte, reifte tatsächlich so etwas wie ein „revolutionärer Geist“ heran. Es war höchste Zeit zu verschwinden. Gerold Paul

Gerold Paul

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