Es sind schon viele ausgezogen, um nach Dingen zu suchen, die sie vermissen. Hans suchte das Glück, Rapunzel die Liebe, Hänsel und Gretel ihr Zuhause. Der Wanderer, den Uwe Kolbe auf den Weg schickt, versucht, die Ruhe zu finden. Sie ist der Welt schon vor Zeiten abhanden gekommen. Der Dichter lässt in seinem Märchen „Storiella“, das jetzt in einem liebevoll gestalteten Buch des Potsdamer Wolbern Verlags erschien, dem Wanderer Flügel wachsen. Mit sanften Schwingen steigt er auf in die Lüfte und gleitet mit anderen Schwirrlingen durch die Welt. Die Zauberin Endora, Hüterin der Ruhe, hatte dem Wanderer diesen Wunsch eingeflüstert. Sie wurde von ihrer Schwester Dora der Ruhe beraubt. Angetan von der zarten Gestalt Endoras fliegt der Wanderer wie ein Zugvogel gen Süden. Hinauf in den blauen Himmel, bis eine schwarze Wolke ihn und seine Begleiter umnebelt.
Die Flatterlinge kommen in ein Königreich, in dem Totenstille herrscht: die wundersamste Ruhe, in der nur noch Mäuse und vielleicht Kakerlaken sich regen. Eine mit Kanonen herbei geschossene Ruhe. Schnell verlassen die Flieger diesen unwirtlichen Ort, um bald darauf in einer Prachtstraße mit herrlichen Säulen und Portalen zu landen. Oberaffe, Schreiberaffe und Kunstaffe haben dort das Sagen und geben weisen Rat: „Denn wenn ihr schon die Lüfte flüchtig findet, wisset, die Ruhe ist flüchtiger, und man bedarf etwas, sich daran zu halten auf dem Weg zu ihr.“
So flüchtig wie die Ruhe sind auch die Worte Uwe Kolbes. Man saugt sie auf, fühlt sich berührt und getragen und doch rinnen sie nach kurzer Zeit wie Wasser durch die Finger. Die Worte mäandern durch die Seelen-Landschaft, verzaubern mit Poesie, ohne sich dauerhaft zu verorten.
Für die meisten Schwirrlinge endet die Odyssee auf der Insel Memma. Dort nehmen sie sich Frauen mit allerlei klingenden Namen, bekommen als Mitgift Königreiche, in denen die Sonne nie untergeht. Nur der Wanderer kehrt zurück in das vertraute Tal. Und es überkommt ihn eine große Ruhe. „Du hast sicher Durst von der langen Reise“, sagt Dora zu dem erschöpften Wanderer und sie lobt ihn für die Treue, die so selten geworden ist. Nun darf er sich laben an ihren Quellen: eine ist Erinnerung, die andere Vergessen.
So wie Uwe Kolbes Text zwischen klarem Erzählen und philosophisch umtriebiger Fantasie wandert, sind auch Hans Scheibs Skulpturen, die er für dieses Märchen schuf. Sie konfrontieren die grazil-poetischen Figuren mit derb-archaischen Gesellen, die durchaus Angst einflößen können. Der Dritte im Männer-Märchenbunde ist der Fotograf Stefan Botev, der mit seinen Landschaftsaufnahmen die Geschichte von der Unruhe sanft in Ruhe bettet. Heidi Jäger
Storiella, Wolbern Verlag, 29, 80 €. Morgen um 20 Uhr wird das Buch mit einer Lesung von Uwe Kolbe im Literaturhaus Berlin, Fasanenstraße, vorgestellt.
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