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Kultur: „Schreiben war eine Spontantherapie“ Peter Walther über das Buch „Die Russen sind da“, das Brandenburger Tagebücher von 1945 zitiert

Herr Walther, am Sonntag stellen Sie in der Villa Quandt „Die Russen sind da“ vor, ein Buch, in dem Tagebuchaufzeichnungen aus Brandenburg im Jahr 1945 zwischen Kriegsalltag und Neubeginn zitiert werden. Zwei Jahre Arbeit stecken in diesem Projekt.

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Herr Walther, am Sonntag stellen Sie in der Villa Quandt „Die Russen sind da“ vor, ein Buch, in dem Tagebuchaufzeichnungen aus Brandenburg im Jahr 1945 zwischen Kriegsalltag und Neubeginn zitiert werden. Zwei Jahre Arbeit stecken in diesem Projekt. Aber ist von Tagebüchern überhaupt ein Erkenntnisgewinn über das bisher Bekannte hinaus zu erwarten?

Wenn ich so denken würde, hätte ich mich nie in ein solches Projekt vertieft. Man gewinnt keine neuen Erkenntnisse im großen historischen Diskurs, das ist richtig. Aber ich halte es schon für eine Erkenntnis, dass wir etwas über die Lebensumstände, vom Alltag der Menschen erfahren und wie sie gedacht haben. Das in der ganzen Breite der Möglichkeiten. Und wir erfahren auch etwas über die ganze Widersprüchlichkeit dieser Zeit.

Wie spiegelt sich diese Widersprüchlichkeit in den Auszügen aus den 30 Tagebüchern wider?

In „Die Russen sind da“ findet sich die ganze Spannbreite unterschiedlicher Lebensalter und den damit verbundenen Erfahrungen mit dem Naziregime. Da ist der Schüler von der nationalpolitischen Erziehungsanstalt in Potsdam, der zum Kriegsende 15 Jahre alt war und von seinem Lehrer mit anderen Schülern an die SS übergeben wurde, um in Spandau gegen die Russen zu kämpfen, wobei die Hälfte der Klasse umgekommen ist. Oder der 60-jährige Journalist, ein Häftling aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen, der auf dem Todesmarsch Richtung Norden Notizen machte.

Ein KZ-Häftling auf dem Todesmarsch?

Ja, das klingt unglaublich. Aber er hat dabei Tagebuch geführt. Er schreibt, dass seine Notizen im Straßengraben entstanden sind, während er ganz kühl beobachtet, wie am Ende der Kolonne die SS zwölf oder dreizehn Häftlinge erschießt, die nicht mehr weiterkönnen.

Schreiben auch um zu überleben?

Ja, um durchzuhalten und sich der eigenen Kraft zu versichern. Aber da ist noch mehr. So schreibt er von einer Episode aus einem kleinen Dorf in der Prignitz, wo er im Büro des Bürgermeisters steht, alle längst wissen, dass es zu Ende geht und der Bürgermeister anfängt auf die Nazis zu schimpfen und nur noch von „Nazischweinen“ spricht. Plötzlich wird der aber immer leiser, weil vor der Tür ja noch immer die SS steht. Also historischer Erkenntnisgewinn hin oder her, aber das sind Geschichten, die mich interessieren, die ich lesen will.

Angefangen hat das Projekt unter dem Namen „Zeitstimmen“ mit dem Sammeln von Tagebüchern und persönlichen Aufzeichnungen aus Brandenburg.

Ja, und ich bin vor allem froh, dass die Grundidee funktioniert hat, die darin bestand, die privaten Aufzeichnungen der Leute in Brandenburg zu sammeln und dabei nicht nur zu archivieren, sondern den Menschen in Form eines Buches und dem Zugang über das Internet zurückzugeben. Der Aufzeichnungszeitraum der eingeschickten Tagebücher umfasst von 1813 bis 2008 fast 200 Jahre und über 300 Orte in Brandenburg, die das erwähnt werden. Überrascht hat mich die Tatsache, dass ein Großteil der Überlieferung sich auf die Jahre bezieht, von denen man am wenigsten geglaubt hätte, dass es hier überhaupt Möglichkeiten gab, Tagebuch zu schreiben. Also die letzten Kriegs- und ersten Nachkriegsjahre.

Wo lagen Ihre Erwartungen?

Ich hatte erwartet, dass diese Tagebücher und persönlichen Aufzeichnungen gleichmäßiger über die Jahre hinweg verteilt sein würden. Man vermutet ja eher, dass in Kriegszeiten solche Aufzeichnungen verloren gehen oder vernichtet werden. Aber es hat sich gezeigt, dass die existenzielle Wucht von äußeren Verhältnissen dazu geführt hat, dass die Leute Tagebuch geschrieben haben.

Und was bewegte die Menschen ausgerechnet in dieser Zeit Tagebücher zu schreiben?

Sie waren sich bewusst, dass sie gerade eine Zeit durchlebten, die es Wert ist, sie im Tagebuch zu reflektieren. Sie haben damit im Grunde die Aufgabe eines Chronisten angenommen. Gleichzeitig war das Schreiben von Tagebüchern eine Art innerer Entlastung. Dinge, die sie bedrängt haben, die auf sie eingestürmt sind, schriftlich niederzulegen. Jetzt stand das auf Papier und bot die Möglichkeit, sich mit einem gewissen Abstand über die Situation klarer zu werden und entsprechend im Alltag handeln zu können. Diese beiden Motive werden in den Tagebüchern auch selbst erwähnt.

Tagebuch schreiben als Versuch, das Geschehen zu reflektieren, um es entsprechend verstehen und einordnen zu können?

Im Grunde war das eine Art Spontantherapie.

Nun gibt es unzählige Bücher über diese Zeit. Warum sollte man ausgerechnet auch noch „Die Russen sind da“ lesen?

Dieses Buch unterscheidet sich in einem wesentlichen Punkt von allem, was sonst über diese Zeit in Geschichtsbüchern oder teilweise in Lebenserinnerungen zu lesen steht. Hier findet sich eine Summe von sehr subjektiven Wahrnehmungen und Schilderungen mit allem, was die Komplexität des damaligen Lebens ausgemacht hat. Es werden nicht die großen historiographischen Linien nachgezeichnet, sondern alltägliche Dinge thematisiert wie das Wetter und Krankheiten, Hunger und Lebensmittelversorgung, Mord, der beobachtet wird, und die Exzesse beim Einmarsch der Roten Armee. Aber auch überraschende Akte von Hilfsbereitschaft. Es ist sehr viel bunter als das, was man womöglich in historisch und episch breiten Schilderungen dieser Zeit lesen kann. Denn es sind keine Lebenserinnerungen, in denen vieles geglättet wird. Hier haben wir authentische, unverfälschte Aufzeichnungen, die ganz dicht am Geschehen sind und in der damaligen Sprachen geschrieben wurden.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Da beobachtet ein Mann in Nauen den Einmarsch der Roten Armee und schreibt von „russischen Wehrmachtsteilen“. Also die Sprache, die er kennt. Oder der Bericht einer Frau über ihre Mutter, einer Postangestellten, die im Juni 1945 wieder zur Post geht und aus Versehen mit „Heil Hitler“ grüßt, weil sie das jahrelang so getan hat.

Was war für Sie im Laufe der Arbeit selbst neu?

Ich beschäftige mich mit diesem Thema, mit dieser Zeit im Grunde schon ein Leben lang. Was ich aber vorher noch nie so gelesen und erfahren habe, ist das Phänomen der kollektiven Gerüchte. Die waren damals ganz verschiedener Art. Ganz banale Hoffnungsgerüchte nach dem Motto: Die Russen ziehen sich wieder hinter die Oder zurück. Dieses Gerücht findet sich in über zehn Tagebüchern, aus denen wir zitieren. Drei Tagebuchautoren berichten von dem Gerücht, dass den Deutschen von den Alliierten ein zweijähriges Heiratsverbot auferlegt werden soll. Das macht den Wert diese Sammlung aus, dass man dadurch sicherer weiß, was nun nur von einem geschrieben wurde und was waberte quasi durch das kollektive Bewusstsein. Es gab ja in den ersten Wochen kein Radio und keine Zeitung. So war man vollständig auf diese Mund-zu-Mund-Propaganda angewiesen.

Eine Zeit der Ungewissheit, in der Gerüchte am besten blühen?

Ja, eine Zeit der Ungewissheit. Und was die Situation in Hinblick auf die Rote Armee am besten beschreibt, eine Zeit der Willkür. Was nicht bedeutet, dass immer nur Schlimmes passieren muss. Es bedeutet aber, dass jederzeit etwas Schlimmes passieren kann. Ob eine Familie mit allen Kindern erschossen wurde oder ob sie ein Brot geschenkt bekommen hat, das war absolut vom Zufall abhängig.

Gewaltexzesse durch die Rote Armee an der Zivilbevölkerung, zu den neben willkürlichen Erschießungen auch Massenvergewaltigungen gehörten. Lange Zeit war das ein Tabuthema. Finden sich darüber auch Berichte in den Tagebüchern?

Ja, natürlich. Und schockierend ist die nahezu körperliche Allgegenwart von Tod und wie das dazu führt, dass die Leute damit umgehen wie mit einem Alltagsgegenstand, regelrecht lakonisch. Da schreibt eine Frau aus Rathenow: „Heute war Sonnenschein. Ich ging im Garten spazieren und saß auf der Bank bei den Massengräbern. Bis zum Abendbrot saß ich auf der Terrasse und danach konnte ich schlafen.“ Das sorgt nicht einmal mehr für Albträume.

Das Gespräch führte Dirk Becker

Buchvorstellung mit Lesung am Sonntag, 30. Januar, 11 Uhr, in der Villa Quandt, Große Weinmeisterstraße 46/47. Der Eintritt kostet 6, ermäßigt 4 Euro. „Die Russen sind da“ ist im Lukas-Verlag erschienen und kostet 19,80 Euro

Peter Walther, geb. 1965 in Berlin, ist Germanist und arbeitet im Brandenburgischen Literaturbüro in Potsdam. Er hat Bücher zu Peter Huchel, Thomas Mann und Goethe veröffentlicht. kip

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