Kultur: Schritt für Schritt das Leben zerstört
Sandra Pingel-Schliemann stellte ihr Buch über Zersetzungsmethoden der Stasi vor
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Sandra Pingel-Schliemann stellte ihr Buch über Zersetzungsmethoden der Stasi vor Sie ließen sich Zeit. Wochen, Monate, manchmal sogar Jahre. Denn steter Tropfen höhlt nicht nur jeden Stein, er zermürbt auch den standhaftesten Menschen, wenn er nicht fassen kann, was ihn zerstören will. Ende der 60er Jahre hatte das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) in der DDR neben dem offenen Terror auch das versteckte „Zersetzen“ unbequemer Personen entdeckt. Unter Erich Honecker wurde Mitte der 70er Jahre systematisch diese Form der Repression perfektioniert. An der Juristischen Hochschule in Potsdam-Eiche beschäftigte man sich wissenschaftlich mit dem Thema. 1976 erließ Erich Mielke die „Richtlinie 1/76“, in der Maßnahmen festgelegt wurden, mit denen erfolgreich gegen „staatsfeindliche Elemente“ vorgegangen werden sollte. In der Reihe „Nachlese – Das politische Buch“ stellte Sandra Pingel-Schliemann am Mittwoch in der Landeszentrale für Politische Bildung ihr Buch „Zersetzen. Strategien einer Diktatur“ vor. 1973 in der DDR geboren, setzte sie sich während ihres Politikstudiums mit dem MfS auseinander. Zu vieles aber war noch unbeantwortet. So begann sie sich mit der Zersetzung zu beschäftigen und war nicht nur einmal kurz davor, alles hinzuwerfen, als sie feststellte, welche Abgründe sich hier auftaten. Von Gefühlen hat sich Sandra Pingel-Schliemann nicht leiten lassen. Mit wissenschaftlichem Ton hat sie ein hervorragendes Überblickswerk über Zerstörungsmethoden geschrieben, die das MfS nicht erfunden, aber bis zu einem unglaublich perfiden Grad betrieben hat. Der ausführliche einleitende Teil über die Herrschaft in der DDR, die Arbeit des MfS und über die Oppositionspolitik in der DDR, macht diese Buch vor allem für junge Menschen lesbar, denen die persönlichen Erfahrungen aus dieser Zeit fehlen. Dass dieses Sachbuch trotz Faktenfülle fesselnd und gleichzeitig beklemmend zu lesen ist, liegt an den persönlichen Schicksalen, die Sandra Pingel-Schliemann hier anführt. Da ist die junge Ärztin R. aus Schwerin, die wegen ihre oppositionellen Arbeit 1986 zu einem „Operativen Vorgang“, wie das Zersetzen in der stasieigenen Fachsprache bezeichnet wurde, erklärt wird. Beruflich wird sie diskreditiert und regelmäßig dringen Stasischergen in ihre Wohnung ein, hängen Bilder um, vertauschen Gewürzdosen. Was hier fast kindisch erscheint, ist genau kalkuliert. Da Frau R. manisch-depressiv veranlagt ist, richten sich die Maßnahmen an ihrer Krankheit aus. Mit Erfolg: Frau R., die nichts beweisen kann, zieht sich immer mehr zurück, verliert ihre Arbeit und muss in psychiatrische Behandlung. 1990 nimmt sie sich das Leben. „Gezielte Eingriffe in die Biographie“nennt Pingel-Schliemann dieses Vorgehen. Die Zerstörung der beruflichen Perspektive, Diskreditierung, Eingriffe in das Familienleben, wie ein Fragebogen wurde die „Richtlinie 1/76“ abgearbeitet. Durch Verbreitung von Halbwahrheiten und Lügen wurde so das Leben des Pfarrers J. in Thüringen über drei Jahre hinweg zerstört. Zuerst verlor er seinen Führerschein, dann seinen Beruf, die Ehe zerbrach, er kam vor Gericht. Irgendwann blieb ihm nur noch die Ausreise. Erschreckend, so Pingel-Schliemann, wie subtil das MfS vorging. Viele der Opfer erfuhren erst mit der Akteneinsicht vom ganzen Ausmaß der Zersetzungen. Erschreckender sei jedoch die breite Akzeptanz, die das Vorgehen des MfS finden konnte. Denn das Zersetzen hätte nie so funktioniert, wenn die Stasi nicht auf ein riesiges Netz von Zuträgern und Inoffiziellen Mitarbeitern hätte zurückgreifen können. In der anschließenden, sehr emotional geführten Diskussion wurde auch die ausstehende Rehabilitierung der Opfer angesprochen. Angesichts leerer Kassen werde sich daran, so Pingel-Schliemann, wohl kaum etwas ändern. Doch im Gespräch werden sie bleiben. Über 3000 Exemplare von „Zersetzen. Strategien einer Diktatur“ wurden bisher verkauft. Auch das Amt für Politische Bildung hat das Buch ins Programm übernommen. Das Thema Stasi ist, auch wenn es sich nicht wenige wünschen, noch lange nicht abgeschlossen.Dirk Becker
Dirk Becker
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