Interview mit Anja Goerz: „Schüchterne gibt es auch in Bayern“
RBB-Moderatorin Anja Goerz stellt ihr Buch „Der Osten ist ein Gefühl“ in Potsdam vor
Stand:
Frau Goerz, „Der Osten ist ein Gefühl“, heißt ihr jüngstes Buch. Was für ein Gefühl ist das?
Ein ganz individuelles, würde ich sagen. Man kann das nicht festlegen, es gibt nicht den Ossi – genauso wenig wie es den Wessi gibt. Gemein ist vielen meiner Gesprächspartner aber eine gewisse Zerrissenheit. Dieses Gefühl, nicht ganz genau zu wissen, wo man jetzt hingehört.
Für das Buch haben Sie rund 30 Gespräche mit Menschen protokolliert, die meisten von ihnen sind in der DDR sozialisiert, einige aber auch im Westen. Wie haben Sie Ihre Interviewpartner ausgewählt?
Einiges hat sich zufällig ergeben, anderes habe ich konkret geplant. So hatte ich etwa gehört, dass der Kapitän der MS Deutschland – das Traumschiff – Andreas Greulich, aus Thüringen kommt. Das fand ich spannend. Andere Gesprächspartner wurde mir von Kollegen oder Freunden empfohlen. Nach wieder anderen habe ich speziell gesucht, wie etwa nach der Journalistin Nancy Krahlisch, weil ich dieses Vorurteil gegenüber der typischen Ost-Namen – zum Beispiel Nancy, Rocco, Ronny und ähnliche – hinterfragen wollte. Und dann stellt sich ja auch tatsächlich heraus: Die Nancy in meinem Buch hat sich bei ersten Treffen gelegentlich Anna genannt. Hilfreich für diesen Aspekt war, dass ich die Leipziger Namensforscherin Gabriele Rodriguez für einen Beitrag gewinnen konnte, die einige wesentliche Irrtümer, was Namensgebung in der DDR betrifft, richtiggestellt hat.
Hatten Sie keine Skrupel, als Wessi ein Buch über Ostdeutsche Befindlichkeiten zu schreiben?
Nein, anfangs überhaupt nicht. Während des Schreibens dachte ich mal kurz: Vielleicht finden die das beleidigend, wenn ein Westdeutscher ihre Geschichte aufzuarbeiten versucht. Und auch zur Premiere bei der Leipziger Buchmesse beschlich mich ein leicht mulmiges Gefühl. Tatsächlich aber habe ich gerade von Ostdeutschen bislang sehr viel Zuspruch bekommen. Es hat dabei sicher geholfen, dass ich mich mehr oder weniger zurücknehme und die Leute selbst zu Wort kommen lasse.
Die Autorin Ines Geipel hat in Potsdam am gestrigen Dienstagabend aus ihrem Buch „Generation Mauer“ gelesen. Ärgert einen das eigentlich beim Schreiben, wenn man merkt: andere sind gerade am selben Thema dran - oder spornt das an?
Das wusste ich nicht, als ich mein Buch schrieb – und es ist ja gerade für dieses Thema nur gut, wenn sich dem möglichst viele widmen. Außerdem ist unsere Herangehensweise sehr unterschiedlich; Ines Geipel stammt selbst aus dem Osten, hat einen völlig anderen Blick für die Dinge. Autoren wie mich, die aus dem Westen kommen, sich mit diesem Thema befassen und von sich aus nachfragen, gibt es kaum.
Geipel beklagte in der Samstagsausgabe der PNN, ihre „Generation Mauer“ mische sich zu wenig in öffentliche Debatten ein. Sehen Sie das auch so?
Das kann ich weder bestätigen noch dementieren. Ich empfinde es immer als schwierig, zu sagen: Diese oder jene Generation ist so oder so. Oder zu sagen: Ossis sind zu schüchtern. Schüchterne gibt es auch in Bayern oder Hamburg, so etwas liegt oft eher an der Familie, in der jemand aufgewachsen ist. Bei all diesen Aussagen gibt es immer Ausnahmen. Deshalb habe ich ja auch bewusst alles offen gelassen. Ich will mir nicht anmaßen, das zu werten, wenn Knut Elstermann etwa sagt, er hält sich auf Partys eher zurück. Mir war es wichtig, dass jeder Leser sich selbst ein Bild machen und selbst darüber nachdenken kann.
In der Einleitung schreiben Sie, Auslöser für Ihr Buch sei Ihre Arbeit beim RBB, wo häufig heftig und emotional über Ost-West-Streitfragen diskutiert werde. Geben Sie mal ein Beispiel für so ein Streitthema!
Das sind oft Fragen redaktioneller Art. Wenn beispielsweise eine Ostpopularität stirbt, dann sagen die einen: Dazu müssen wir unbedingt etwas machen - die anderen sagen: Den kannte doch keiner! Das ist natürlich aber auch eine Altersfrage. Die Jüngeren kannten den im Zweifel alle nicht. Oder es geht um die Frage: Sagt man viertel sieben oder viertel nach sechs?
Was ist mit der berühmten Frauenfrage, der Streit zwischen vermeintlich emanzipierteren Ost- und reaktionäreren Westfrauen?
Nein, das ist bei uns eher kein Thema. Weil das einfach sehr individuell ist – das, was der eine so empfunden hat, sieht der nächste ganz anders. Das merkt man in fast allen Bereichen. Die einen erzählen von dem erdrückenden Gefühl der allgegenwärtigen Kontrolle, die anderen von der guten Solidarität. Das war auch für mich überraschend. Konkret beim Thema Kinderbetreuung dachte ich, da sind sich die Ostfrauen alle einig. Tatsächlich aber gibt es auch dort große Unterschiede in der Wahrnehmung.
Wie haben Sie denn selbst den Mauerfall, erlebt – hat Sie das bewegt?
Ich muss gestehen: Mir war das damals nicht so wichtig. Ich lebte damals noch in Schleswig-Holstein und arbeitete dort in Kiel für einen Radiosender. Wenn man Anfang 20 ist, gerade in den Beruf einsteigt, dann hat man andere Dinge im Kopf – aber auch später hat es mich lange nicht so interessiert. Bewusst geworden ist mir das erst beim RBB.
Haben Sie durch die Interviews selbst etwas gelernt – über den Osten, vielleicht aber auch über den Westen?
Meine größte Erkenntnis ist: Man kann nicht alle über eine Kamm scheren, die Menschen sind individuell unterschiedlich – im Westen wie im Osten. Auch das Elternhaus spielt eine wichtige Rolle, durfte man beispielsweise Westfernsehen schauen oder nicht. Und: Man muss einfach mal nachfragen, wenn man mal wieder „Typisch“ denkt, darüber ins Gespräch kommen, ob das wirklich so typisch ist. Und ich verstehe heute besser, warum jemand verletzt ist. Etwa wenn bei uns im Radio eine Band gespielt werden soll und Leute aus dem Westen sagen: Das will doch keiner hören. Dass das unterdrückten Zorn und auch Verletztheit auslösen kann, verstehe ich heute besser. Und frage auch eher nach.
In den Gesprächen taucht teils auch eine spannende Frage auf: Warum bist du nicht geflohen, als du die Gelegenheit hattest - haben Sie den Eindruck, dass sich viele Ihrer Gesprächspartner ein wenig dafür rechtfertigen, sich in der DDR auch wohlgefühlt zu haben?
Absolut! Das sagt ja auch Knut Elstermann im Buch: „Wenn du aus der DDR kommst, musst du immer zuerst sagen, das System war großer Mist. Erst dann darfst du sagen: Ja, ich hatte eine schöne Kindheit.“ Dabei ist das System doch Kindern und Jugendlichen meist total egal, da spielt eine Rolle, wo der erste Kuss stattfand, wo sie die erste Liebe gefunden haben.
Die Fragen stellte Ariane Lemme
Anja Goerz liest am morgigen Donnerstag um 18.30 Uhr in der Buchhandlung Schweitzer, Friedrich-Ebert-Straße 117, aus „Der Osten ist ein Gefühl“ (dtv-Verlag, 14,90 Euro). Der Eintritt ist frei
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