Kultur: Schuldige Landschaften
Bis heute trägt Armando seine Erinnerungen ab. Ein Diptychon ist jetzt im Deutschen Historischen Museum Berlin zu sehen
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Friedlich liegt sie da: die stille, sonnige Heide. Ein großes unberührtes Gebiet. Der Ort unbeschwerter Kindheit. Bis 1940 alles anders wird. Baracken werden errichtet, Stacheldraht gezogen. Wo vorher der Junge mit seinen Freunden Fußball spielte, entsteht fast über Nacht ein Konzentrationslager. Neugierig fährt er mit dem Fahrrad vorbei. Immer mehr Fahrzeuge begegnen ihm auf dem Weg zur Schule. Fast jeden Tag Transporte, hin und zurück. Fahren die Laster aus der Stadt hinaus, ist ihr Ziel Deutschland, die Lager in Sachsenhausen oder Buchenwald. Sie wissen davon, die Einwohner im holländischen Amersfoort, denen die deutschen Besatzer nun plötzlich ebenfalls ein Lager vor die Nase setzen.
Armando, der in Potsdam lebende 83-jährige Maler, hat sie bis heute nicht abgetragen: diese Erinnerung. Er malt in den größten Formaten, wühlt sich förmlich in die Farbe hinein – und doch bleibt da immer ein Rest. Etwas, was ihn nicht zur Ruhe kommen lässt. Denn es sind längst keine Bilder mehr allein über den Zweiten Weltkrieg. Die Kriege haben neue Orte, neue Opfer. Dennoch bleibt alles so gleich. „Seit Kain und Abel wird gemordet.“ Armando, der inzwischen nur noch mühsam laufen kann und sich aus der gemütlichen Küche mit seinem Rollator ins benachbarte Atelier begibt, wirkt wie ein ratlos staunender Junge inmitten seiner Baumwelten, die er heute im Sitzen malt. Von dicken Farbkrusten überzogene Gummihandschuhe, mit denen er vor allem tiefes Schwarz, aber auch Rot und sattes Grün oft zentimeterdick aufträgt, liegen bereit. „Noch immer ist viel Kraft in mir“, sagt er. Kein Zweifel, wenn man allein auf diese Bilder schaut. Einer seiner magischen Baumgiganten ist noch feucht. Er leuchtet in der hereinfallenden Herbstsonne in seinem Atelier in der Ulanenkaserne. „Schuldige Landschaften“ nennt Armando seine Werke. Eines davon, ein Diptychon im brodelnden Schwarz-Weiß, hängt in der Ausstellung „Verführung Freiheit“ im Deutschen Historischen Museum Berlin. Diese vom Europarat organisierte Schau mit über hundert Kunstwerken aus 28 Ländern ist eine subtile Spurenverfolgung der Geschichte seit 1945, die bis in die Schützengräben zurückführt und in der die Nachkriegsgeschichte neu gelesen werden soll – ohne ideologische Blockkonfrontation. Eine Ausstellung über die Freiheit.
Doch wie frei fühlt sich jemand, den die Gedanken immer wieder zurückführen in die Zeit, als zwei junge Männer aus seiner Stadt Amersfoort zu Zwangsarbeiten nach Deutschland geschickt werden sollten und die sich in letzter Minute bei Armando zu Hause verstecken konnten. Sie wurden entdeckt, kamen ins Konzentrationslager nebenan. Die Zuträger wohnten in seiner Straße. Die beiden Studenten haben überlebt: mit schweren physischen und psychischen Schäden.
„Ich gucke nicht mehr hinters Gestrüpp. Ich möchte die schuldige Idylle genießen, die gefährliche Idylle“, sagt Armando und schaut versonnen auf den Hof der ehemaligen Kaserne, die mal Pferdeklinik war. „Auch ein belasteter Ort“, wie er sagt. „Aber man kommt nicht umhin.“ Ein Satz, den der Mann mit den streng zurückgekämmten weißem Haar immer wieder ausspricht. Leise, in der ihm eigenen Nachdenklichkeit, die sich trotz allem eine Spur Fröhlichkeit bewahrt hat.
Er hat schon so vieles in seinem unruhigen Leben gesehen. Und viel getan, um Geld zu verdienen „für diese blöden Farben“, ohne die er nicht leben wollte. „Du musst trainieren und immer wieder trainieren. Bis dein Körper wie Granit wird“, gab ihm sein Vater mit auf den Weg. „Habe ich genug trainiert?“ Er hat als junger Mann am Hafen gearbeitet und schwere Säcke geschleppt. Er hat auch geboxt, um Geld zu verdienen, Flaschen abgefüllt in Bierfabriken. Alles für die Ölfarben. „Ich kann nichts weiter als Kunst.“ Doch davon versteht er eine Menge. Er malt und schreibt, drehte Filme, spielte Geige, selbst mit der beim Boxen verletzten Sehne seiner Hand. Er erhielt trotzdem den Edison-Preis für eine CD, die er mit seiner „Zigeunerband“ eingespielt hat. „Ja, ich bin berühmt“, sagt er mit seiner charmanten Spitzbübigkeit. 2003 nahm Armando Abschied von der Geige, in einem Konzert in Amsterdams berühmter Concertgebouw.
Da lebte er schon in Berlin. 1979 verließ er seine Heimat und schrieb in einer holländischen Zeitung unter der Rubrik „Armando aus Berlin“ über „schuldige“ Wohnungen, über Häuser, in denen Menschen ermordet wurden. „Sie sehen plötzlich anders aus, wenn man weiß, was in ihnen passierte.“ Jahrelang berichtete er über die Erinnerungen anderer Leute. Auch über die der Täter. Er machte sich nicht nur Freunde, als er 1960 sein Buch „Die SS’ers“ herausgab: mit Interviews von Holländern, die sich freiwillig zur SS gemeldet hatten. „Ich wollte einfach aus Neugierde mit ihnen sprechen und habe dabei viel gelernt, was ihre Triebfedern waren: die Ideologie und die Lust aufs Abenteuer. Auch diese Leute haben Wörter.“ Bis zur Wende berichtete „Armando aus Berlin“. „Dann hatte ich keine Lust mehr. Berlin war jetzt eine neue Stadt.“
Nach Potsdam verschlug es ihn eher durch Zufall. „Wenn ich gesund gewesen wäre, hätte ich gern noch eine Großstadt wie Rom erobert.“ Doch auch Potsdam hatte seinen Reiz, vor allem wenn man so gern mit dem Boot übers Wasser gleitet wie er. Nach dem Mauerfall bekam Armando sofort ein große Ausstellung im Waschhaus. Und zu seinem 75. Geburtstag schenkten ihm die beiden Künstlerkollegen Hubertus von der Goltz und Frank M. Zeidler einen zweimonatigen Atelieraufenthalt in ihrem Kunsthaus. Heute lebt und arbeitet Armando ständig hier. Und immer wieder malt er seine Bäume. „Sie haben alles gesehen, aber nicht geredet. Sie sehen so unschuldig aus und täuschen eine Idylle vor.“ Doch eine Landschaft, die zugesehen hat, wie Hunderte Menschen erschossen und verscharrt worden sind, ist für ihn nicht mehr unschuldig. Er war dabei, als auf seiner Heide Massengräber ausgehoben wurden. So wie er seine dicken Farbschichten aufträgt, versucht er die eigenen Erinnerungen abzutragen. „Da kommt man nicht umhin.“
Seine Gedanken kreisen um viele Themen. „Das hat man davon, wenn man alt wird.“ Doch alle haben mit Vergänglichkeit zu tun, mit Gestrüpp, durch das er so viel beobachtet hat als kleiner Abenteurer und Straßenjunge. Jede Nacht musste er als Kind einen Baum umhacken: zum Essen kochen und Feuermachen. Das war lebensgefährlich. Aber er zog los, immer wieder. „Wenn ich heute meine Bäume male, will ich auch zurückgeben, was ich damals der Natur gestohlen habe.“
Und er summt eine versonnene Melodie seiner „Zigeunerkapelle“ mit, die im Hintergrund läuft und aus der seine ganze Seele spricht.
Die Ausstellung „Verführung Freiheit“ ist bis Februar 2013 im Deutschen Historischen Museum Berlin zu sehen, Unter den Linden 2, täglich 10 bis 18 Uhr
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