Kultur: Sich selber sehen lernen
Shang-Chi Sun erzählt über Chancen der Einsamkeit
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Einsamkeit macht kreativ. Das jedenfalls ist die Erfahrung von Shang-Chi Sun. Als kleiner Junge wurde er oft von seiner schauspielernden Mutter am Bühnenrand „abgestellt“, während sie probte. Er sprach mit sich selbst, schuf sich seine eigene Welt. Wie Nomaden zogen sie von Ort zu Ort. Shang-Chi Sun kannte weder eine geregelte Kindheit noch eine feste Heimat. Heute freut er sich zwar, wenn er sein Geburtsland Taiwan besucht. Doch als Heimat betrachtet er eher Berlin, dort wo er Freunde und seinen Partner hat. „Berlin ist wie Familie“, sagte er ganz entspannt bei einem Cappuccino im „Alex“.
In seinem Solo „Je.Sans.Paroles“ erzählt der 33-Jährige von diesem Alleinsein in einer fremden Welt, ohne dabei in Melancholie zu versinken. Denn für den Tänzer birgt Einsamkeit die Chance, sich selbst mehr wahrzunehmen. Seine Choreografie basiert auf Becketts Stück „Akte ohne Worte“, wo es außer Regieanweisungen tatsächlich keine Worte gibt. Dafür fallen Objekte auf die Bühne: auf einen Mann, der in der Wüste landet und nicht mehr aus dieser fremden Welt herausfindet. Anfangs versucht er, aus den Objekten etwas Sinnvolles zu kreiieren. Aber alle Versuche schlagen fehl. Er muss lernen, aus sich selbst zu schöpfen.
Shang-Chi Sun, der in Taipeh Ballett und zeitgenössischen Tanz studierte, wird mit Licht, Video und der sehr dynamischen Musik von Helmut Lachenmann die Vorlage weitertreiben. In sein eigenes Reich. Denn aus „Akte ohne Worte“ wird „Ich ohne Worte“. Nicht die Objekte stehen im Mittelpunkt, sondern der Tänzer. „Wenn ich nicht tanzen würde, würde ich schnell in eine depressive Stimmung verfallen“, erzählt der Mann mit den wachen warmen Augen und dem kurzen schwarzen Haar. „Ich brauche die Bühne, den Tanz, um eine lebendigere Wahrnehmung von mir zu haben.“ Und diese Selbstwahrnehmung scheint Funken zu schlagen. Schließlich gewann er 2008 den 1. Preis für Choreografie beim Tanzsolo Festival in Stuttgart und ist Mitglied der renommierten Sasha Waltz Company.
Was seinen Tanz so besonders macht? Auf diese Frage gibt es nur ein bescheidenes Lächeln. „Manche sagen, dass meine Bewegungen eine Art Brücke sind zwischen dem europäischen und dem fernöstlichen Tanz“, versucht er dann doch eine Erklärung. Und Laurent Dubost von der „fabrik“ fügt an: „Shang-Chi ist wahnsinnig schnell und präzise. Sein Tanz ist sehr besonders.“ Shang-Chi Sun sieht durchaus etwas Universelles in seinem Solo. „Viele suchen wie ich eine Heimat und sich selbst. Sie werden getrieben von der Frage: ,Was ist meine Aufgabe im Leben?’“ Das „verlorene Kind“ von einst hat seine Antwort gefunden.Heidi Jäger
Zu sehen am 4. Juni um 19 Uhr und am 5. Juni um 18 Uhr, in einem Doppelabend mit dem taiwanesischen Kollektiv YiLab.
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