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Kultur: Sie streiften wie Wölfe um die Bauernhöfe

Vor 50 Jahren in Ostpreußen: Erinnerungsberichte erschienen / Ehemalige „Wolfskinder“ erzählten in Potsdam aus ihrem Leben

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Vor 50 Jahren in Ostpreußen: Erinnerungsberichte erschienen / Ehemalige „Wolfskinder“ erzählten in Potsdam aus ihrem Leben Von Dagmar Schnürer Inmitten der ausgestellten Bilder von heutigen Flüchtlingskindern sitzen drei deutsche Damen, die vor rund fünfzig Jahren ebenfalls Flüchtlingskinder waren: Wolfskinder. In der Landeszentrale für politische Bildung wurde eine neue Publikation vorgestellt: „Von Ostpreußen nach Kyritz. Wolfskinder auf dem Weg nach Brandenburg“ von der Historikerin Ruth Leiserowitz (geb. 1958 in Prenzlau), die seit 1992 zu dem Thema forscht und schreibt. Die drei anwesenden Damen sind Schwestern. Sie wurden unter dem Familiennamen Liedke in Ostpreußen geboren: Sieglinde (geb. 1935), Irmgard (geb. 1936) und Waltraud (geb. 1939). Waltraud Bolduan und Sieglinde Kenzler, beide verheiratet, deren Erlebnisberichte in dem Buch nachzulesen sind, erzählen von ihrer Verwahrlosung, damals 1947 in Litauen, wohin sie vor dem Hunger geflohen waren. Das Leben bestand aus Nahrungssuche, wie Wölfe streiften sie um die Bauernhöfe. Zu essen gab es oft nur Kartoffelschalen, Brennesseln und Frösche. Die litauische Bevölkerung nannte sie „kleine Deutsche“ und wenn sie Pech hatten „Faschisten!“ Vertreibung, Verschleppung Bis 1944 schien Ostpreußen mit seiner Hauptstadt Königsberg (heute: Kaliningrad) der sicherste Ort in Deutschland zu sein, doch dann kamen die anglo-amerikanischen Bomben und anschließend die Rote Armee. Es folgten Vertreibung, Verschleppung und Hungersnot. Viele Kinder wurden zu Waisen und mussten sich alleine durchschlagen. Von dem benachbarten Litauen hieß es, dass die dortigen Bauern freigiebig seien und das stimmte auch in den meisten Fällen. So überquerten viele Kinder den Memelstrom und zogen jahrelang als Wolfskinder bettelnd durch Litauen. Bis die sowjetische Politik 1947 den Entschluss fasste, die nichtarbeitsfähigen Deutschen aus Königsberg und dem restlichen Ostpreußen auszusiedeln. Zu Tausenden wurden in den folgenden Jahren deutsche Kinder in die damalige DDR transportiert. 260 dieser Waisenkinder fanden schließlich in dem Kinderheim „Ernst Thälmann“ in Kyritz (Prignitz) ein neues Zuhause. Erst nach der Wende wurde die Geschichte der Wolfskinder bekannt und konnte die Aufarbeitung der traumatischen kriegsbedingten Erlebnisse beginnen. In der BRD hatte es zwar in den fünfziger Jahren bereits Veröffentlichungen zu dem Thema gegeben, doch sie waren auf kein Interesse gestoßen. Denn welche Flüchtlinge, die gerade erst dabei sind, sich zu integrieren, reden gerne darüber, dass sie Flüchtlinge sind? In DDR tot geschwiegen In der DDR war Ostpreußen ein Thema, das tot geschwiegen wurde. Im sowjetischen Litauen war es regelrecht gefährlich, sich als deutscher Flüchtling zu outen. Erst als Litauen 1990 unabhängig wurde, bildete sich dort ein Verein von ehemaligen Wolfskindern, der bei der Suche nach Verwandtschaft in Deutschland behilflich ist. Viele Familien konnten wieder zusammengeführt werden, doch viele wollen auch von ihren „Wolfskindern“ nichts wissen. Teilweise spielt die Scham, ein Kind im Stich gelassen zu haben, eine Rolle. Zu Anfang der gut besuchten Veranstaltung in Potsdam wurde ein Ausschnitt aus dem Dokumentarfilm von Hans-Dieter Rutsch gezeigt: „Verschollen in Ostpreußen. Der lange Weg der ,Wolfskinder’“ (WDR 2002). Der Film begleitet unter anderem die vergebliche Suche des Genrich Tschupailis nach Verwandten. Erst als der Film ausgestrahlt wurde, meldeten sich die Schwestern des alten Mannes aus Litauen, der sich an sein Geburtsdatum und an seinen Namen nicht mehr hatte erinnern können. Nicht alle hatten wie die fünf Geschwister Liedke aus Wehlau das Glück, sich nach jahrelanger Trennung wohlbehalten im Kyritzer Kinderheim wiederzutreffen. Wie notwendig die Aufarbeitung dieses Themas ist, zeigten nicht nur die Erzählungen der drei Schwestern. Nach knapp fünfzig Jahren sprühen immer noch Zorn und Abscheu aus Irmgard Liedke, wenn sie von ihrem achtjährigen Arbeitsmartyrium unter der Fuchtel einer bösartigen Bauersfrau in Litauen berichtet. Waltraud Bolduan greift der Tod der Mutter, der die fünf Geschwister 1947 zu Waisen machte, nach wie vor an. Der Vater war verschleppt worden und ist im Ural verstorben. Doch auch die Reaktionen aus dem Publikum zeigten, dass dringender Redebedarf besteht und dass dieses Thema heftige Emotionen hochsteigen lässt. In dem überwiegend älteren Publikum saßen mehrere Betroffene. Kriegsschicksale. Ruth Leiserowitz „Von Ostpreußen nach Kyritz“, Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung 2003. Diese Publikation ist in der Landeszentrale, 14473 Potsdam, Heinrich-Mann-Allee 107, kostenlos erhältlich.

Dagmar Schnürer

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