
© Sehsüchte
FILMFESTIVAL: Übers Älterwerden, den Tod und vergessene Lieder
Das Studentenfestival „Sehsüchte“ zeigt 130 Filme aus 30 Ländern. Erstmal gibt es einen Jugendblock.
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Zum Auftakt gibt es feinsten Galgenhumor. Da steht diese Witwe Bolte mit aufgewickeltem Haar und Messer in der Hand und zerlegt mit routiniertem Schnitt ein Huhn. Das blutige Eingeweide legt sie ungerührt zur Seite, näht den leeren Bauch zu und ab gehts in die Röhre. Der ungeliebte Mann kommt nach Hause und riecht den Braten nicht. Schnurstracks verheddert er sich in den Strippen, die sein Weib für ihn auf dem Fußboden gezogen hat. Die Falle schnappt zu, der wohlbeleibte Gemahl landet mit dem Kopf am Kühlschrank. Blut fließt. Als Requiem ertönt aus dem Radio die Ansage der Lottozahlen. Mit letzter Kraft schluckt der Sterbende den Lottoschein mit den richtigen Kreuzen in sich hinein. Der Blick der Frau schwenkt auf das Brett mit den großen Messern. Cut! Die Kamera ist aus. Das Kino läuft im Kopf der Zuschauer weiter, zu den Geräuschen der gewetzten Messer.
Die fünfminütige Wilhelm-Busch-Adaption „Huhn für Karl“ von Jan Liedtke gehört mit zu den 130 Filmen aus 30 Ländern, die ab kommenden Dienstag, dem 24. April, bis zum 29. April beim Internationalen Studentenfilmfestival der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ Potsdam-Babelsberg (HFF) zu sehen sind. Diese hauseigene Produktion, die am gestrigen Dienstag beim Pressegespräch der „Sehsüchte“ vorgestellt wurde, unterhielt mit schwarzem Humor. Die blutige Klinge war indes fein geschliffen. Auch die anderen gezeigten Beiträge in dem kurzen Werbeblock, den das etwa zehnköpfige Studenten-Team überzeugend präsentierte, machte neugierig.
Da gab es die Dokumentation „Mind Space“, die der grell aufblitzenden Mord-Satire eine bizarre dunkle Kraterlandschaft in langsamen Bildern entgegensetzte, gedreht im stillgelegten Lausitzer Braunkohletagebau rund um die an ein Mondfahrzeug erinnernde Förderbrücke F 60. Diese imaginäre, langsame Reise durch die Räume des eigenen Geistes zeigte einen Elfjährigen Jungen, der sich mit seinen Geckos, seiner Katze, ein paar Spielsachen und Familienfotos – so dass er sich nicht alleine fühlt – auf den Weg zu fernen Sternen begibt. Dieser ebenfalls von der HFF eingereichte Film der indischen Regisseurin Udita Bhargava erzählt über die Grenzenlosigkeit und zugleich Beschränktheit eigener Vorstellungskraft.
Bei der Sichtung der rund 1300 Einreichungen – rund Hundert mehr als im Vorjahr – zeigte sich, dass überdurchschnittlich viele Jugendfilme darunter waren. So entschloss sich die Festivalleitung zu einem extra Block für Jugendliche. Schwerpunkte sind Themen wie Freundschaft, Verlust, Grenzüberwindung oder Idole, wie in einem Film über das Fußball-Trikot von Ronaldo. In der australischen Produktion „Julian“ erzählt Mathew Moore über einen Schüler, der eine Petze ist und von seinem Lehrer zum Rektor geschickt wird. Nach unerwarteter Wende ist Julian am Ende der lachende Dritte. Dieser Kurzfilm wurde bereits auf der „Berlinale“ 2012 ausgezeichnet. Wie viele der „Sehsüchte“-Filme Uraufführungen sind, konnten die Studenten nicht aus dem Stegreif sagen. Einziges Kriterium für die Auswahl sei gewesen, dass die Filme aus dem Jahr 2011 oder 2012 stammen und von Studenten, jungen Absolventen oder Amateurfilmern sind. Ihr besonderes Augenmerk legten sie auf Kameraführung und Schnitt und natürlich, wie viel Herzblut in ein Film geflossen sei. „Oft waren die Ideen gut, aber die schauspielerische Umsetzung nicht überzeugend“, so die Festivalleitung. Uninteressant sei für sie gewesen, von welcher Schule die Beiträge kommen, da gab es auch keinen HFF- Bonus.
Wie bereits im vergangenen Jahr widmeten sich viele Filmemacher dem Thema Älterwerden und Tod, „vielleicht weil es immer mehr ältere Menschen in der Gesellschaft gibt“, mutmaßte Katharina Störrle von der Programmkommission. Auch einer der wenigen 90-minütigen Filme erzählt vom Sterben: „Das letzte Kapitel“ begleitet einen Mann auf seine letzten Stunden im Hospiz. Ansonsten werde sehr oft das Streben nach Glück, mal liebevoll-sanft, dann wieder sarkastisch behandelt und sehr spezielle, oft schwere körperliche Arbeit vorgeführt: wie in einer Mine, bei der Spargelernte oder beim Abbau von Möwenkot als Düngemittel.
Auf Vorschlag des Bundestages gibt es dieses Jahr den thematischen Schwerpunkt Nachhaltigkeit, für den ein Preisgeld über 2500 Euro gestiftet wurde. Dieser inflationär verhandelte Begriff soll durch die Filme fassbarer werden, auch in seiner sozialen Dimension. In einem Beitrag aus Indien geht es um den Aufeinanderprall von Tradition und Moderne. Da besucht ein junges Paar den Onkel, um die Lieder und Riten, die sie nicht mehr kennen, wiederzuerlernen. Der Film „Das Leben eines Computers“ zeigt, wie Leben zunichte gemacht wird: das der Goldschürfer oder das der Giftgas einatmenden Menschen, die auf den Deponien Ghanas hausen, dort, wo alte Computer billig entsorgt werden, in dem man sie einfach anzündet.
Erstmals gibt es neben HFF und Thalia einen dritten Spielort bei „Sehsüchte“: auf dem Gelände von Studio Babelsberg. In dem großen Kino der Postproduktion „Rotor Film“ geht es um die „Schreib–Süchte“, darum, wie ein gutes Drehbuch entsteht. Junge Autoren erhalten dabei Gelegenheit, ihre bisher unverfilmten Drehbücher vor Produzenten, Publikum und Jury auf Marktreife prüfen zu lassen. Das gab es zwar auch schon in den Vorjahren, aber in viel zu kleinen Räumen, die nicht ausreichten für all die Interessenten.
Und noch eine Neuerung beziehungsweise ein Zurück in alte Zeiten gibt es: Der Sonntag wird wieder als Wettbewerbsfilmtag integriert, startend mit dem Filmfrühstück im Thalia.
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