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Irgendwo dahinter. Alexander Friedrich glaubt hinter der Glienicker Brücke Hildegard von Bingen singen zu hören.

©  Andreas Klaer

Von Dirk Becker: Und niemand vermisst sie

„Der Abgrund des Endlichen“ heißt der neue Novellenband von Hartmut Lange – Eine spielt in Potsdam

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So viel Vergeblichkeit, trotzdem wird es zur Obsession. Alexander Friedrich, Historiker und freier Journalist für mehrere Tageszeitungen, hat sich der Musik der Hildegard von Bingen verschrieben. Johannes Feldmann, Gymnasiallehrer, ist von der Rettung eines maroden Frauenkopfs aus Gips an der Remise einer Autowerkstatt besessen. Oder der alte Mann in „Der Abgrund des Endlichen“, der seine Familie in Kanada verlässt und nach Berlin zurückreist und einen Brief schreibt: „Sehr geehrter Herr, erinnern Sie sich an das Jahr 1948 und an jene Juninacht, in der Ihr Bruder tot im Wald aufgefunden wurde! Nun, ich bin sein Mörder, und ich habe allen Grund, mich ihnen anzuvertrauen.“

„Der Abgrund des Endlichen“ ist auch gleichzeitig der Titel des jüngsten Buches von Hartmut Lange. Drei Novellen hat der in Berlin lebende Autor darin versammelt. Eine davon, „Hinter der Brücke“, spielt in Potsdam.

Hier lebt und forscht der Historiker und Journalist Alexander Friedrich. Still und bemerkenswert unaufgeregt ist sein Leben in dem eigenen Haus mit Blick auf die Glienicker Brücke. Friedrich lebt allein. Er ist liiert mit einer Ärztin aus Hohenschönhausen, die er ein-, oder zweimal in der Woche trifft. Ansonsten widmet er sich den Gesängen der Hildegard von Bingen. Den Antiphonen, liturgische Wechselgesänge aus dem Mittelalter, um nachzuweisen, „dass in ebendiesen Gesängen die Einsamkeit, ja Verlorenheit jener Zeit aufzuspüren und nachzuempfinden war“. Doch es ist nur die eigene Einsamkeit und Verlorenheit in seiner, unserer Zeit, der Alexander Friedrich in diesen Gesängen nachspürt. Dass er mit seiner Forschungsarbeit auf einer Historikertagung durchfällt, überrascht den mit Hartmut Langes Novellen vertrauten Leser genauso wenig wie seine selbstzerstörerische Ignoranz einer unbenannten Krankheit gegenüber, deren Verlauf eindeutig ist.

Seit Anfang der 80er Jahre schreibt der mittlerweile 72-jährige Hartmut Lange fast ausschließlich Novellen. Es ist, so kann man es nennen, seine zweite Karriere. Denn vor seiner Flucht aus der DDR im Jahr 1965 und einer darauf folgenden jahrelangen schriftlichen Sprachlosigkeit, war Lange hoffnungsvoller Dramatiker im sozialistischen Arbeiter - und Bauernstaat. Er hatte an der Filmhochschule in Babelsberg studiert, Peter Hacks, einflussreicher Bühnenautor und Begründer der „sozialistischen Klassik“, war sein Freund und Mentor. Doch als nach dem Tod Stalins im März 1953 immer mehr von dessen verbrecherischen Regime bekannt wurde, wirkte das nicht einfach nur wie eine Desillusionierung, sondern förmlich wie eine Zertrümmerung des marxistisch geprägten Weltbildes von Hartmut Lange.

In Langes Novellen, die zu den eindrucksvollsten in diesem Genre im deutschsprachigen Raum zu zählen sind, begegnen uns immer wieder Männer wie in „Der Abgrund des Endlichen“, die gleichzeitig Suchende, Ratlose und Gescheiterte sind. Desillusionierte und auch Zertrümmerte. Fassungslose, aber nicht Hoffnungslose. Das ist die große Kunst des Schriftstellers Hartmut Lange. Seine Figuren sind zwar Desillusionierte, am täglichen, dem normalen Leben Scheiternde. Doch sie geben nicht auf. Sie verbeißen sich trotz aller offensichtlichen Vergeblichkeit in etwas, das wie bei dem Gymnasiallehrer Johannes Feldmann ein Frauenkopf, bei dem alten Mann aus Kanada der Wunsch nach Erlösung für ein unmögliches Verbrechen oder wie bei Alexander Friedrich die Antiphonen von Hildegard von Bingen sein kann. Etwas, das ihnen durch die Tage, durch ihr Leben hilft, das sonst so belanglos und blass erscheinen würde, dass sie darin für immer verschwinden könnten wie in einem dichten Nebel. Und niemand vermisst sie.

Hartmut Lange erzählt mit einer stillen Zärtlichkeit für seine Figuren. Er bringt sie dem Leser nur soweit nahe, dass sie nie Gefahr laufen, bloßgestellt oder in irgendeiner Form der Lächerlichkeit preisgegeben zu werden. Und diese freundliche Distanz führt auch immer dazu, dass wir nie allzu sehr mit diesen traurigen Männern sympathisieren und uns zu schnell in ein behagliches und uns beruhigendes Verständnis für sie zurückziehen können. Aber gerade durch diesen Respekt für das Schicksal seiner wie dahintreibenden Figuren holt Lange den Leser dann doch so nah heran, dass uns deren Obsessionen nie einfach nur gleichgültig sind. Und so blicken wir mit Alexander Friedrich aus dem Fenster hin zur Glienicker Brücke, durch das Stahlgerüst hindurch, „zu ergründen, woher der Gesang, den er zu hören glaubte, kam“. Egal, wie vergeblich uns das auch immer erscheinen mag.

Hartmut Lange: Der Abgrund des Endlichen. Drei Novellen, Diogenes Verlag, Zürich 2009, Gebunden, 126 Seiten, 19,90 Euro

Dirk Becker

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