Kultur: Ursachengestrüpp
Welche Konsequenzen ergeben sich für die Politik aus dem Mord in Potzlow? / Ein Gespäch im Thalia
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Der Film geht unter die Haut, elektrisiert den ganzen Körper und pocht auch noch am Tag nach der Aufführung in den Schläfen. Dabei hat Andres Veiel bei seinem „Nachspiel“ des Falls von Potzlow auf allen Naturalismus verzichtet. Nur zwei Schauspieler verweben in karger Szenerie ein ganzes Geflecht von Figuren, sprechen in vielschichtiger Darstellung die Täter Marco und Marcel Schönfeld, deren Eltern sowie die Eltern des ermordeten Marinus Schöberl. Auch den Anwälten und Dorfbewohnern geben sie Stimme. Sieben Monate recherchierte Veiel gemeinsam mit Gesine Schmidt vor Ort, um Vertrauen in dem von Medien verteufelten Dorf in der Uckermark aufzubauen. Irgendwann war es möglich, das Mikro hinzuhalten, sehr persönliche Gedanken festzuhalten, darunter auch Worte wie Faustschläge, die tief in der Magengrube sitzen.
Doch um den Film „Der Kick“ sollte es am Dienstag im Thalia nur zweitrangig gehen. Die Heinrich-Böll-Stiftung hatte eingeladen, um in einer Diskussion nachzuhaken, was für die Politik aus dem Fall Potzlow folgt. Nachdem das Eis betretener Stille in dem gut besuchten Saal gebrochen war, kamen sie auch alle zu Worte: zuvorderst Barbara Richstein, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU sowie Sylvia Lehmann: auf gleichem Posten der SPD. Doch auch im Publikum waren viele geladene Gäste, die mehr oder weniger dicht an dem Geschehen dran sind und sich äußern wollten. Richstein, damals Justizministerin, fragte sich selbst, ob es Versäumnisse in der Resozialisierung von Marco gegeben habe oder ob es in seiner Natur läge, Täter zu werden. Sie selbst habe eine große Verletztheit und Perspektivlosigkeit in dem Film gespürt. „Wir müssen den Menschen mehr Selbstverantwortung übertragen. Man kann nicht alles dem Staat aufbürden.“ Frau Lehmann sah die emotionale Ebene in der Familie und in der Gemeinde als entscheidend für die Tat an. Der Vater habe für seine Kinder vor der Wende zu wenig Zeit gehabt, da er auch am Wochenende arbeitete. Jetzt hat er wiederum zu viel Zeit, weil es keine Arbeit mehr für ihn gibt. Dann die gesellschaftlichen Umbrüche, wie die LPG-Gründung, bei der ein Großteil der Menschen ihr Eigentum verlor. „Vieles wurde nicht verarbeitet, das wirkt in den Fall mit rein.“
Es gab zahlreiche Statements an diesem Abend, vom Bürgermeister, von Vereinsinitiativen, von den Leitern der Gefängnisse, von Politikern auch anderer Parteien. Viele waren so allgemein, dass sich bald Unmut breit machte. Einige der sehr wachen jugendlichen Besucher verließen den Saal und fragten: „Worüber redet Ihr hier eigentlich?“ Ein junger Mann bemängelte, dass keiner vom Bildungsministerium dabei war. Ihm fehle im jetzigen Bildungssystem eine freie Entwicklung der Persönlichkeit. Wolf-Dietrich Voigt, Leiter der JVA Wriezen, in der Marcel seine Strafe absitzt, sagte, dass dem Jungen keine Hobbies vermittelt worden seien, nicht in der Schule, nicht in der Familie. „Und es gab auch keine Grenzen in der Erziehung.“ Marcel habe jetzt hinter Gittern seine Lehre als Fliesenleger abgeschlossen. „Wir werden gemeinsam mit einem Verein versuchen, einen Arbeitsplatz für ihn zu finden“, denn nächstes Jahr könne er wieder nach Hause. Es wäre aber sicher nicht gut, wenn er in sein Dorf zurück kehre. Voigt bemängelte, dass jeder für sich „wurstele“, es keine Vernetzung in der sozialen Jugendbetreuung gebe. „90 Euro kostet ein Tag im Haftvollzug, das Geld wäre in präventive Arbeit besser angelegt.“ Und genau das mahnten auch die Vereine an. „Warum können Projekte, die mühsam aufgebaut werden, nie länger als ein Jahr gefördert werden?“
Es schwebten viele Fragen im Raum: Warum wird so viel in Beton und so wenig in Köpfe investiert? Warum muss eine Bildungseinrichtung wie Buckow e.V., die Jugendlichen ohne Lehrstelle eine überbetriebliche Ausbildung vermittelt, um jeden Cent betteln? Was tun, wenn der Alkoholismus immer früher und bei immer mehr Jugendlichen um sich greift? Wie viel Anerkennung bekommt jeder Einzelne? Fragen, auf die keine rechten Antworten gefunden wurden, vor allem nicht darauf, wie der Mord hätte verhindert werden können.
Gerade deshalb schreibt Andres Veiel nach Theaterstück und Film nun noch ein Buch über Potzlow. „Dieser Fall lässt mich nicht los – eben weil es keine schnellen Antworten gibt. Es ist ein Ursachengestrüpp, eine vielfache Verkettung von Zufällen, die zum Mord führten.“ Diese unvorstellbare Gewalt habe auch etwas Archaisches, etwas,was es schon immer gegeben hat. „Bei den Jungs aus Potzlow gibt es keine typische Täterbiografie. Viele Väter haben an Wochenenden gearbeitet. Bei Marco gibt es aber eine Demütigungserfahrung, oft wurde er wegen seiner Sprachstörung gehänselt. Da lag die Tendenz nahe, sich mit Springerstiefeln ein Gefühl von Bedeutung zu geben, die ideologisch nicht verfestigt sein muss.“ Auffallend sei auch die Ähnlichkeit des Opfers mit den Tätern: Alle besuchten die Förderschule, auch Marinus stotterte. Und beide Familien kamen erst vor ein paar Jahren ins Dorf, blieben die Fremden. „Das Ganze hat nichts mit uns zu tun“, distanzierte sich ein Alteingesessener gegenüber der Tat. „Wie lange dauert es eigentlich, in einem Dorf anzukommen?“, fragt sich Veiel. Durch die sehr unglücklich verlaufende Abwicklung der LPG in Potzlow habe ein großer Hass auf die alte Nomenklatur geherrscht, aber auch auf die neuen Investoren. „Das Wir-Gefühl war zerfallen, es herrschte Misstrauen, selbst gegen die Nachbarn, gegen jeden Neuen. Das alles erklärt aber noch nicht den Mord.“
Für ihn gebe es aber ganz konkrete Fragen an die Politik. „Es ist doch ein Skandal, wenn das inzwischen gegründete Jugendzentrum in Potzlow von einem privaten Investor gefördert werden muss und sich die Kommune aus dem Brennpunkt zurück zieht.“ Unverständlich auch, dass Buckow e.V. nur noch zwei Jahre Planungssicherheit habe. „Wie sollen sich die Mitarbeiter geduldig und engagiert um Jugendliche kümmern, wenn sie selbst verunsichert sind?“
Und Marco? „Er machte zwar einen Alkoholentzug und seinen Hauptschulabschluss. Aber ihm fehlt eine Berufsausbildung. Wenn er in 15 Jahren raus kommt, kann er keine Lehre mehr machen. Aber er braucht einen Job, das Gefühl, eigenes Geld zu verdienen. Das wird im Maßregelvollzug einfach nicht gesehen.“
Wenn sich das Gespräch im Thalia auch verzettelte und oft vage blieb, Veiel glaubt dennoch, dass es eine bessere Vernetzung für die Zukunft angestiftet habe.
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