
© M. Thomas
Doku-Film über russische Junkies im „Thalia“: Verfluchter Gorbatschow
Es ist wohl das erste Mal in der russischen Geschichte, dass Wodka den Kürzeren zog. Als mit Gorbatschows Perestroika nicht nur scheinbare Freiheit und Rockmusik in den Osten schwappten, sondern auch das zunächst sogar noch billigere Heroin, wollte niemand mehr die Droge der Elterngeneration trinken.
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Es ist wohl das erste Mal in der russischen Geschichte, dass Wodka den Kürzeren zog. Als mit Gorbatschows Perestroika nicht nur scheinbare Freiheit und Rockmusik in den Osten schwappten, sondern auch das zunächst sogar noch billigere Heroin, wollte niemand mehr die Droge der Elterngeneration trinken.
Über diese Opfer der Neunziger hat die Regisseurin und Slawistin Ivette Löcker einen Dokumentarfilm gedreht, der in der Hölle von Sankt Petersburg spielt und am gestrigen Sonntag im Thalia Kino gezeigt wurde: „Wenn es blendet, öffne die Augen“ porträtiert Ljoscha und Schanna, die über die Hälfte ihres Lebens Nadeln in ihre Venen geschoben haben, ihre Haut ist so zerstochen, dass jeden Tag eine neue Suche beginnt, wo die Spritze noch platziert werden kann. Beide wohnen bei Ljoschas Mutter, die sich mit engelhafter Geduld aufopfert, damit wenigstens etwas zu essen in der winzigen Wohnung ist. Die Drogenabhängigkeit ihres Sohnes? Schicksal: „Verfluchte Gorbatschow und Jelzin!“, winkt die alte Frau nur noch ab. Schanna ist mehr noch als Ljoscha von ihrer HIV-Infektion gezeichnet, die Wohnung verlässt sie schon längst nicht mehr, höchstens im Rollstuhl, ganz am Ende des Filmes – Endstation mit Mitte 30.
Löckers Film schmerzt, weil so viel Hilflosigkeit nur schwer zu ertragen ist. Konnte Schanna vorher wenigstens noch als Prostituierte arbeiten, ist sie mittlerweile gänzlich auf Ljoscha und dessen Mutter angewiesen – sie besorgt das Essen, er das Methadon. Jeden Tag ist es dieselbe tragische Verwaltung der Gegenwart, die sie noch am Leben hält. Ljoscha dagegen ist noch am Leben, arbeitet als Sozialarbeiter mit Junkies, denen es sogar schlechter als ihm selbst geht. Dazu kommt noch die Tristesse der Sankt Petersburger Plattenbausiedlungen, gedreht wurde dazu noch ganz oft im Dunkeln – die ganze Stimmung des Filmes ist pure Depression, man könnte einfach nur heulen. Aber dann sind da noch diese kleinen Momente, wenn der Hamster über den Küchentisch läuft, während die beiden Junkies über ihre geplatzten Träume schwadronieren. Die Kamera hält dabei ganz, ganz dicht drauf.
Sie sei auf das Thema gestoßen, weil der Sohn einer guten Freundin abhängig geworden sei, sagt Regisseurin Löcker. Es gab aber auch keine Informationen über Drogen, viele Eltern wussten schlicht nicht, was da eigentlich mit ihren Kindern passiere. „In Deutschland hat sich schon die Ansicht durchgesetzt, dass Drogensucht eine Krankheit ist.“ Viele Eltern in Russland schämten sich jedoch dafür – Ljoschas Mutter sei die Einzige, die sie während der Recherchen erlebt habe, die nicht zerbricht. Jetzt, drei Jahre nach den Dreharbeiten, hat Löcker immer noch Kontakt zu Ljoscha und Schanna, der es mittlerweile deutlich schlechter gehe. Einen Weg hinaus aus der Sucht gibt es für sie nicht mehr. Oliver Dietrich
Oliver Dietrich
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