Von Heidi Jäger: Versinken in der Bilderflut
Unidrams Lange Nacht der Experimente flirtete mit der Leichtigkeit und ließ es gewaltig krachen
Stand:
Das zarte Bild der handkleinen, schönen alten Frau bleibt. Es wird auch nicht in der laut tösenden Erfindungsmaschinerie der russischenWaldschrate von Akhe zerhäckselt. Die Gefahr ist indes groß, dass sich in der engmaschig gestrickten Langen Nacht der Experimente bei Unidram die Bilder überlagern und der eigene Takt verloren geht.
Die gesamte Schiffbauergasse ist am Mittwochabend mit Theaterangeboten überzogen: Feuerkörbe weisen den Weg. Ortsfremde irren dennoch etwas verloren zwischen fabrik, T-Werk, Fluxus, Waschhaus und Arena umher. Dabei die Uhr im Nacken: Denn nur die Pünktlichen kommen in den Genuss der mitunter raren Plätze. Wie vor der Mini-Pappkarton-Bühne der Dresdner Puppenspielerin Uta Gerbert, die ihre kleine schöne Großmutter an zarten Fäden zwischen Alleinsein, Erinnerung und dem Entschwinden hinaus in die Zeit führt. Sie wiegt das Thema wie ein Hauch Vergänglichkeit. Ihre wortlos-poetische Verzauberung fühlt sich an wie die Liebeserklärung einer jungen Frau an das Alter.
Das Seufzen und feine Atmen der intim beseelten Puppe weicht bei „Luftmangel“ des aus Moskau angereisten „Ohne Zucker Dance Projects“ dem schweren dumpfen Schlagen bedrohter Herzen. Der silberschwarz glänzende Raum ist mit elektronisch verzerrten Geräuschen angefüllt, die im Rhythmus der verstümmelten Bewegungen widerhallen. Degenerierte Wesen geben animalische Laute von sich, das lautlose dämonenhafte Lachen der vier Gestalten wirkt wie ein kalter Schauer. Bedrängnis stellt sich ein, die wie Krakenarme um sich greift. Das Aneinanderkrallen Ausgestoßener, die sich winden, gierig nach einander fassen und doch in aller Härte wieder auf sich selbst zurückgeworfen werden, wirkt grotesk und Angst durchtränkt. Der „Luftmangel“ der hilflosen, einen Ausweg suchenden, irren Kreaturen überträgt sich auf den Zuschauer. Dieser ist schließlich froh, in die frische, wenn auch nasskalte Novemberluft hinauszutreten.
Dort wächst in akribischer Knüpfarbeit ein Mikadoturm in die Höhe. Die „himmlische Sondierbohrung“ von Georg Traber aus der Schweiz wirkt wie ein verlorenes Licht in dem seelenlos dunklen Karree des Schirrhofes. Doch Zeit, sich in die meditative Kletterpartie hinein zu begeben, bleibt nicht. Die Uhr läuft, die nächste Vorstellung wartet: Anne Hirths Behauptung „Und übrigens kann ich fliegen“ will überprüft sein. Ihr bewegungstheatralisches Fantasietraining weitet die eng gewordene Brust: Durchzug nach dem Gang in dunkle innere Gassen. Die sieben Tänzer und Schauspieler stehen grüppchenweise auf der Bühne, tauschen vielsagende Blicke, flüstern einander zu. Schließlich löst sich ein Mann aus der Gruppe, tippt die Worte in eine Schreibmaschine, die eingezwängt in einem Büroschrank klemmt. Er verteilt das Geschriebene an die anderen: Die Worte gehen ihrer Wege, hängen an der langen Leine, finden sich auf einem Notenständer wieder, gerinnen zu Handlungsanleitungen, die keiner versteht. Jeder nutzt die Worte im eigenen Sinn: der eine lässt sie kreisen, der andere gerinnen.
Anne Hirth hat für ihre Produktion ein vielseitig nutzbares Bühnenkonstrukt geschaffen, mit verschiebbaren Ein- und Ausgängen. Was eben noch Tür war, ist im nächsten Moment ein Tisch. Alles ist im steten Wandel. Für ihre leisen „Botschaften“ findet sie rhythmisch wohldosierte Bilder, die kindlich frisch und unabgenutzt mit heiterem Unterton überraschen. Aus einem roten Plastikeimer ist plötzlich Musik zu hören. Ein Mann greift sich den Behälter und trägt die Töne spazieren. Dann schwenkt er sie lustvoll in die Höhe, um sie schließlich an ein Lasso zu binden und unbekümmert über den Köpfen der Zuschauer kreisen zu lassen. Grenzen lösen sich auf. So auch, als sich die fast unbekleideten Akteure zum Knäuel verwirren und versuchen, sich gegenseitig anzuziehen. Was ist hier Fuß, was ist Hand? Auf beides passt der Strumpf. In wunderbarer Leichtigkeit spielt das Stück mit Paradoxien, fern jeder Kopflastigkeit. Anne Hirth findet Türen für alle Temperamente. Man begibt sich hinein, lässt sich überraschen und sieht mit Sicherheit nicht das Gleiche wie der Nachbar. Jeder geht auf eigene Entdeckung.
Nach diesem entspannten Flirt mit der Leichtigkeit kracht es in der Waschhaus Arena gewaltig. Die wie bayerische Rumpelstilzchen daher kommenden „Akhe“-Hasardeure schleudern ihre Energie ungebremst in den Saal. Die Objektkünstler zermalmen alles, was sie in die Hände kriegen und malen doch gleichzeitig an einem eindrucksvollen Bild. Nach diesem feurigen „Aufschrei“ geht nichts mehr. Der Brustkorb vibriert, verlangt nach Ruhe. Ein letzter Blick auf den Mikado-Himmelsstürmer sei gegönnt. Doch der ist inzwischen wieder im Nichts verschwunden. Es bleiben die Bilder, die sich trotz der Fülle behaupten, wie das von der schönen alten Frau.
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