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Kultur: Von einem Irrsinn in den nächsten

Großer Andrang zum Buchgespräch mit Eugen Ruge – und die ernüchternde Erkenntnis, dass man nie alles sagen kann

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Es ist ein Thema, das lange unausgesprochen blieb – und groß ist immer noch das Informationsbedürfnis. Zum Buchgespräch über „Gelobtes Land – Meine Jahre in Stalins Sowjetunion“ mit dem Herausgeber und Buchautor Eugen Ruge kamen am Dienstagabend weit mehr Besucher, als man in der Landeszentrale für Politische Bildung erwartet hatte. Die meisten Gäste waren im Alter zwischen den Generationen von Vater Wolfgang und Sohn Eugen Ruge, was dem Abend den Hauch einer Zeitzeugenversammlung verlieh.

Eugen Ruge hat mit diesem Buch die Erinnerungen seines Vaters Wolfgang (1917-2006) herausgegeben. Der Historiker und Kommunist verbrachte 23 Jahre in der Sowjetunion, zuerst im Exil vor Nazideutschland, den größten Teil in den Straflagern des Gulagsystems, weil er Deutscher war. Das sei allerdings auch in anderen Ländern praktiziert worden, erklärte Eugen Ruge, „allerdings nicht in dieser Radikalität und unter diesen Bedingungen“. Erst 1956 kehrte Wolfgang Ruge mit seiner russischen Frau und dem zweijährigen Sohn Eugen zurück – in die DDR.

Das Wort Gulag habe damals in der DDR praktisch nicht existiert, „darüber wurde nicht gesprochen“, sagte der Potsdamer Dokumentarfilmer Hans-Dieter Rutsch. Die beiden Männer gingen einst zusammen in Babelsberg zur Schule, als Eugen noch Shenja hieß.

Ruge widersprach: Zwar wurde offiziell nicht über die Straflager gesprochen, doch „so lange ich denken kann, habe ich immer Bescheid gewusst. Fragen wurden mir von meinem Vater immer beantwortet“. Wohingegen Rutsch meinte, stets gespürt zu haben: „Er hat nie alles gesagt“. Was Wolfgang nicht gesagt hatte, schrieb er wohl auf. Seit den Sechzigern hatte er an seinen Erinnerungen gearbeitet, sagte sein Sohn, viele Geschichten und Biografien von Nebenfiguren seien auch deshalb so detailliert geschildert. Im Buch verschmelzen historische und novellenhafte Passagen, es ist Geschichtsbuch und Familiensaga, erträglich und unerträglich gleichermaßen, und entlässt am Ende den Leser, wenn die kleine Familie im April 1956 im kaputten Berlin auf dem Bahnsteig steht, von einem Irrsinn in den nächsten, in eine Welt, die es so nicht mehr gibt. Dass und vor allem warum das alles mal so war, das konnten auch Ruge und Rutsch nur zu erklären versuchen.

Wolfgang Ruge selbst versucht es im Buch mit der Passage über eine Begegnung mit seiner Mutter, überzeugte Kommunistin, die nach der Rückkehr aus dem mexikanischen Exil nach Jahren den Sohn wiedersieht. Dieser will ihr von Stalins Verbrechen erzählen, doch sie hält sich demonstrativ die Ohren zu. Rutsch sieht darin den „Willen einer ganzen Generation von Kommunisten zur Verdrängung der Realität – zugunsten der großen Sache, der Bekämpfung des Kapitalismus. Vielleicht kann man das so verstehen.“

Dass allerdings gleich zwei Brüder wie Wolfgang und Walter im gelobten Land Sowjetunion verschwinden und das grausame Lagersystem überleben, verstoße gegen jede Wahrscheinlichkeitsregel, sagte Ruge. Deshalb habe er in seinem Roman nur einen Bruder überleben lassen. Eugen Ruge hat nämlich die Erinnerungen des Vaters für sein Romandebüt „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ aufgegriffen, dafür gab es 2011 den Deutschen Buchpreis. Die Romanfigur Kurt ist unmissverständlich angelehnt an den Vater, sei aber eine literarische Figur, so der Schriftsteller. Ruges Bücher sind eine Möglichkeit, die Epoche des Stalinismus zu betrachten. Das Autorengespräch endete nach leider nur einer Stunde mit dem vagen Gefühl: Es wurde nicht alles gesagt. Steffi Pyanoe

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