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Vergangenheit und Gegenwart. Während der slowakische Film Otec die tragische Geschichte einer Familie aufrollt (l.), nimmt sich der Dokumentarfilm Frauenzimmer (r.o.) drei Prostituierten jenseits der 50 an. Anna-Maria Mühe (r.u.) spielt in dem prämierten Film Live Stream die V-Bloggerin Ms. Bingo, die sich vor laufender Kamera das Leben nimmt.

© Sehsüchte

Von Jan Kixmüller: Vor laufender Kamera

Slowakischer Spielfilm „Otec“ gewinnt Filmfestival, „Frauenzimmer“ wird bester Dokumentarfilm

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Das ist schon ein sehr erstaunlicher Film. Christel, Paula und Carolina sind zwischen 50 und mitte 60, sie arbeiten in einem für ihr Alter eher untypischen Beruf. Die eine bietet sich als Domina an, die andere arbeitet privat als Hure und die Dritte ist Chefin eines Bordells. „Klar, komm doch auf ein schnelles Fickerchen vorbei“, sagt Paula (49) einem Kunden am Telefon, in einem Ton, als biete sie eine ganz banale Dienstleistung an. Doch sie gibt auch zu, dass es ihr schmeichelt, dass die Kunden gerade scharf darauf seien, es mit der Chefin zu machen.

Für ihren Dokumentarfilm „Frauenzimmer“ erhielt Saara Aila Waasner bei dem am Sonntag zu Ende gegangenen 39. internationalen Studentenfilmfestival „Sehsüchte“ den Preis für den besten Dokumentarfilm (5000 Euro). Die Jury lobte den Film der Absolventin der Filmakademie Baden-Württemberg als sensibel, liebe- und würdevoll. Zu Recht, denn die Regisseurin stellt eine sehr große Nähe zu ihren drei Darstellerinnen her. Ganz freimütig erzählt ihr etwa die 58-jährige Christel, dass sie nun den Sex mit den Freiern genießen kann. Früher mit ihrem Mann, das sei für sie viel mehr eine „Dienstleistung“ gewesen. Doch mit 49 Jahren hatte Christel sich völlig emanzipiert, damals erst ihren ersten Orgasmus erlebt. Ihre Tochter findet das toll. „Irgendwie ist das auch ein politisches Statement“, sagte sie vor laufender Kamera.

Auch für die 64-jährige Karolina bedeutet ihr Job in erster Linie Freiheit. Sie hat sich aus einer engen Spießbürgerwelt befreit, indem sie ihre immer schon vorhandene Neigung zur Dominanz nun auslebt. Von einem ihrer „Sklaven“ lässt sie sich in der Rikscha durch Berlin fahren, lässt sich dabei Sekt von ihm reichen, und im Schuhgeschäft bekommt er schon einmal einen Tritt, wenn er nicht spurt. Dass Carolinas Freude am Leben in dem Film ebenso deutlich wird, wie auch ihre Angst vor dem Alter, zeichnet den 74-minütigen Streifen aus.

Ganz anders dann der Hauptgewinner des diesjährigen Studentenfilmfests. Der slowakische Spielfilm „Otec“ (The Father) von Lukas Hanulak (Academy of Music an Dramatic Arts, Bratislava) erhielt in Potsdam gleich zwei Preise. Er wurde als bester Spielfilm (5000 Euro) sowie für den besten Schnitt ausgezeichnet (2120 Euro). Eine tragische Familiengeschichte steht seit vielen Jahren zwischen Vater und Sohn. Den Sohn konnte der Vater einst aus einem Waldsee vor dem Ertrinken retten, doch die Mutter nicht mehr. Jetzt als junger Erwachsener kehrt der Sohn zurück an den See, an dem die Familie ein Ferienhaus hat. Stück für Stück gibt der Film das Geheimnis der Vergangenheit preis. Der Sohn wirft dem Vater zu Unrecht vor, die Mutter nicht gerettet zu haben. Am Ende liegt der Sohn nach einem Autounfall im Krankenhaus, der Vater wird halbtot in dem Boot gefunden, das damals gekentert war. Sie haben es beide gerade noch einmal geschafft. Schließlich schauen alle in den Himmel hinauf, wo die Kraniche ziehen. Poetisch, atmosphärisch und atemberaubend fand die Spielfilmjury um Fritzi Haberlandt, Wolfgang Becker, Fred Kelemen den 43-minütigen Spielfilm. Das Poetische allerdings ist etwas sehr dick aufgetragen, und atemberaubend ist dieser Film gerade nicht. Schon eher nachzuvollziehen ist der Preis für den Schnitt, denn die Szenen und Bilder laufen in dem sehr perfekt wirkenden Abschlussfilm geschickt ineinander. Ansonsten aber ist es ein Zuviel an Andeutungen über das einst Geschehene, das den Film etwas überladen und verworren wirken lässt.

Überladen wirken einige der diesjährigen Sehsüchte-Preisträger. So auch der österreichische Film „Catafalque“ von Christoph Rainer, der für die beste Kamera ausgezeichnet wurde (5000 Euro). Zwei kleine Jungen werden offensichtlich von ihrem Vater gequält und malträtiert, man sieht es nicht, hört nur das Geschrei des Vaters, sieht die Jungen, wie sie vor ihm flüchten, die Mutter, wie sie ohnmächtig zusieht. Am Ende ein Durcheinander aus Polizeisirenen und verwackelten Bildern aus dem Keller, in dem die Spurensicherung tätig ist. Das wirkt zwar alles bedrückend, irgendwie aber auch zu sehr gewollt, um wirklich mitzureißen.

Ähnlich verhält es sich mit dem Film „Live Stream“ von Jens Wischnewski (Filmakademie Baden-Württemberg), der den Produzentenpreis (Sachleistungen für 12000 Euro) erhielt. Mit Anna-Maria Mühe und Matthias Brandt prominent besetzt zeigt der Film das tragische Ende der Video-Bloggerin Ms. Bingo. Die Story ist bei aller Perfektion des Films nicht stringent genug erzählt, um den letzten Schritt der Bloggerin, ihren live im Internet übertragenen Selbstmord, glaubhaft zu machen. So bleibt die Sache eher skurril als bewegend.

Perfektion und Qualität waren zwei Stichwörter, die den Programmmachern der diesjährigen „Sehsüchte“ zu den über 1300 eingereichten Filmen eingefallen waren. Womit sie Recht behalten sollten. Was von Jahr zu Jahr beim Studentenfilm mehr auffällt, ist der Hang zum Kino- bzw. TV-fertigen Produkt. Wobei die erzählten Geschichten leider oft etwas auf der Strecke bleiben. Was der Popularität des nach der Wende im kleinen Rahmen neu gestarteten Potsdamer Studentenfilmfestivals keinen Abbruch tut. Mittlerweile behauptet man seit Jahren den Titel Europas größtes Festival seiner Art zu sein. Das Festival ist aus Sicht der Initiatoren damit an seine Grenzen gestoßen. Was der Rege Zuspruch des Publikums auch in diesem Jahr nur unterstrich.

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