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Kultur: Vorher und nachher

Jutta Voigt las aus „Im Osten geht die Sonne auf“

Stand:

Solange es etwas zum Denken gibt, ist nichts abgeschlossen, auch nicht das Ding mit dem „Osten“. Noch immer scheint es hier großen Nachholbedarf zu geben; Vorholbedarf vielleicht auch. Am Freitag las nun Jutta Voigt in der Stadt- und Landesbibliothek aus ihrem neuen Buch mit dem provokanten Titel „Im Osten geht die Sonne auf“. Mit „Westbesuch“ und „Der Geschmack des Ostens“ hat die bekannte Journalistin schon früher diese Zone bereist. Ihre „Berichte aus anderen Zeiten“, so der Untertitel, entstammen sämtlich der Reportage- und Feuilletonabteilung von Zeitungen wie Sonntag, Freitag, Wochenpost, Die Zeit oder GEO, bei einigen war sie als Redakteurin bestallt.

Wer nun aber denkt, mit dieser Textsammlung ein politisches, gar politisierendes Opus vor sich zu haben, der irrt. Jutta Voigt schildert mit Leidenschaft und viel Verstand lediglich den Alltag vor und nach der Wende. Sie schreibt 1980 von einem verfallenen Hinterhof in Ostberlin, der just zum „Phantasieparlament“ wird, weil dort jeder redet, was er reden will – auch jene Alte, deretwegen dieser (und nur dieser eine) Text in der DDR nicht gedruckt wurde: „Elendsbuchte, keene Zuversicht!“ Die Autorin wollte diesen Schlüsselsatz aus dem hinterhöflichen Gewaber von Rede und Gegenrede nicht herausnehmen.

Das ist das Erstaunliche, das an diesem Abend in der Stadt- und Landesbibliothek spürbar wurde: Texte aus 30 Jahren, unverändert und so frisch und authentisch wie am ersten Tage, Respekt! Jutta Voigt ist eben eine begnadete Autorin. Sie beschreibt den Alltag der Großstadt mit ihren „lieben Pennern“, schreibt von den kleinen Leuten in ihren Elendsbuchten, von Baustellen, von einem Café im vergilbten Braunton, wo sich alt gewordene Leute treffen.

Nach der Vereinigung besucht sie, die bekannte Filmkritikerin, ein Porno-Kino mit traurigen Männern, erzählt vom Filmfestival in Moskau, wo sich eine Hoteletage einen Fön teilen musste, von einem gutbetuchten Banker, der seinen verarmten Freund im Frankfurter Bahnhofsviertel zur eigenen Seelenruhe besucht, von einem Ost-Rockfestival, vom Berliner Kollwitzplatz am 1. Mai. Sie liebt die Reportage, hat auch die passenden Augen dazu. Diese erkennen sofort, welche Marke einer am Leibe trägt, was seine Körpersprache bedeutet. Große und kleine Leute im Lebensstrom, oben oder unten. Sogar zu einem CDU-Parteitag wurde sie geschickt. Viel Brimborium. Sie fragte sich, wann beginnt das Ereignis? Es war längst im Gange, mit dem allverehrten Dicken und einem Volker Rühe, dem sie sofort Versagensängste ansah, deshalb schwitzte er so, bei der großen Polonaise. Wären alle Parteitage so beschrieben worden, hätte die Welt vielleicht anders ausgesehen.

Jutta Voigt findet auch an diesem Abend starke Formulierungen. Heute müsse jeder ein Exhibitionist sein, sonst ist er einfach nicht vorhanden, als Preis werde sein „Innenleben notgeschlachtet“. Oder ihre Unterscheidung der Systeme: Im Osten ging es um Ideal und Wirklichkeit, heute nur um Soll und Haben. Zuhause dann liest diese poetisch angehauchten Sozialstudien aus ihrem „Im Osten geht die Sonne auf“ in einem Zuge. Und sehr nachdenklich macht dann, wenn man ganz nebenbei erfährt, wie viel oder wie wenig Staat so ein Menschenleben wirklich braucht: Als Frieda im braunvergilbten Café, dem „Vorort des Vergessens“, nach dem vergangenen Sozialismus und deren Oberen gefragt wird, sagt sie: „Da haben wir uns nicht drum gekümmert. Egal wer dranne war, wir haben gearbeitet“. Gerold Paul

Jutta Voigt: Im Osten geht die Sonne auf. Berichte aus anderen Zeiten, be.bra Verlag, Berlin 2009, 224 Seiten, 16.90 €

Gerold Paul

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