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Kultur: Vorwärts! Es ging zurück

Susanne Müllers Fotos vom Abzug der sowjetischen Armee in der Ticketgalerie

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Susanne Müllers Fotos vom Abzug der sowjetischen Armee in der Ticketgalerie Von Götz J. Pfeiffer Es begann mit zwei Unterschriften und endete mit einer Feier. Der russische Autor Lew Kopelew nannte letztere „demütigend und erniedrigend“. Bereits 1990 hatten Bonn und Moskau den Abzug der „Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland“ vereinbart. Am 31. August 1994 wurden die letzten Truppen auf dem Berliner Gendarmenmarkt vom deutschen Bundeskanzler und dem russischen Präsidenten verabschiedet. Dazwischen lag der Abzug der größten und am besten ausgerüsteten Armee des Warschauer Paktes außerhalb der Sowjetunion. Am deutschen Wiedervereinigungstag zählte sie rund 337800 Soldaten und Offiziere, 44700 zivile Angestellte und 163700 Familienangehörige. Ihren Abzug begleitete seit 1990 die Potsdamer Fotografin Susanne Müller mit der Kamera und erhielt dafür auch Zutritt zu den bis dahin fest verschlossenen Kasernen. Ihre schwarz-weißen Aufnahmen, die sie schon von 1993 bis 1995 in mehreren Ausstellungen und in einer Publikation mit „Fotografischen Impressionen über Leben und Abzug der russischen Armee“ einer breiten Öffentlichkeit präsentierte, zeigt sie nun erneut anlässlich des 10. Jahrestages des Truppenabzugs als kleine Fotoschau im oberen Geschoss der Ticketgalerie. Nicht von den Auswirkungen der großen Politik im Kleinen und nur in Seitenblicken vom Abzug künden die knapp 25 mittelformatigen Fotos. Die Ausstellung hat ihren Schwerpunkt auf den Alltag der Soldaten gelegt. Und der stellt sich allemal von kärglich bis elend dar. Zur „Nachtruhe“ hatten sich 1993 Soldaten unter ihre Mäntel in Fürstenberg gelegt. Beim „Kartoffelschälen“ beobachtete Müller 1990 Soldaten in einer Kasernenküche, die der Bundeswehr wohl nicht einmal im Manöver genügen würde. Vom „Frühstück“, das aus einem Kanten Brot und Büchsenkost bestand, ganz zu schweigen. In ihren Uniformen mit dem Sowjetstern auf Knöpfen und Koppel wirken die 1991 in Posen zwischen Habt-Acht und jugendlicher Lässigkeit gebannten Soldaten wie Fremdkörper aus einer fernen Welt. Das nicht nur, weil in den einzelnen Fotos Kasache und Kirgise, Turkmene und Usbeke, Tadschike und Russe nebeneinander gestellt sind. Aber darf als repräsentativ gelten oder erfüllt es nur das Klischee, dass der geschniegelte Offizier in der „Politischen Ausbildung“, 1991 in Nedlitz mit der Kamera beobachtet, aufrecht vor seinen Soldaten saß, die sich eher gelangweilt hinter ihren Tischen lümmelten? Sehr viel realer sind die militärischen Überreste von verbogenen Panzerketten und Reifenstapeln, die Müller als „Altlasten“ 1992 in der märkischen Schweiz fand. Wüsste man nicht, dass die abgelichteten Truppen 1953 den Aufstand in der DDR niederschlugen und 1961 zusammen mit der Nationalen Volksarmee den Mauerbau absicherten, dass sie 1968 den „Prager Frühling“ blutig erstickten und zuletzt auch über die bedrohlichen SS 20-Raketen verfügten – den gezeigten Fotos kann man nichts von ihrer Macht entnehmen. Denn trotz eines zackigen „Morgenappells“ von 1990 in Nedlitz und trotz der Feierlichkeiten zum 55. Jubiläum der „Hubschraubereinheit Weiße Stadt“ in Oranienburg von 1993, kommt eher Mitleid als Furcht auf beim Anblick dieser Truppe. Seltsam ist, dass die meisten Fotos bei aller Nähe zum Objekt von unterkühlter Distanz durchdrungen sind. Vielleicht bedeuten sie auch denjenigen mehr, die Jahre und Jahrzehnte in der möglicherweise bedrohlich empfundenen Nähe zur Sowjetarmee lebten. Doch mit einem Blick von außen wird man vor allem das zeithistorische Moment der Aufnahmen schätzen. Denn es ist nur selten, dass Müller Bildmetaphern gelingen wie bei der Aufnahme „An der Kasernenmauer“, die sie 1992 in Beelitz einfing. Vor einer Kolonne geputzter Lastwagen wartet ein Soldat. Im Hintergrund wirbt eine Reklame für West-Zigaretten: „Neu! Jetzt auch in der Hartpackung.“ Die Neuigkeiten welcher Zukunft hatten die heimkehren GUS-Truppen zu erwarten? Bis 1. November in der Ticketgalerie. Mo-Fr 10-17 Uhr, Sa 10-14 Uhr.

Götz J. Pfeiffer

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