Kultur: Warum Auschwitz?
Buchpremiere zum Holocaust und seiner Bedeutung für die Gegenwart im Fraenger-Haus
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Wenn auf den Straßen des Landes derzeit so etwas wie eine Deutschland-Sinfonie zu erleben ist, dann fand am Montag im Wilhelm-Fraenger-Haus der Kontrapunkt zum kollektiven schwarz-rot-goldenen Fahnenschwingen statt. Könnte andernorts der Eindruck entstehen, das entscheidende identitätsstiftende Moment der Nachkriegzeit sei das „Wunder von Bern“, in den düsteren Räumlichkeiten im Tschaikowskiweg wurde „Auschwitz“ als Fundament der Nachkriegsidentität untermauert.
Wolfgang Hempel, ehemals stellvertretender Direktor des Moses Mendelssohn Zentrums, las aus der Autobiographie von Michael Checinski. Dieser hat Auschwitz, sogar die „Todesmärsche“ überlebt. Er habe überleben müssen, schreibt Checinski, um Zeugnis abzulegen.
Dann kam der Sprung. Ein Sprung, der größer ist als der von 1945 nach 2006, weil er nicht nur die Zeit, sondern auch die Seiten wechselt: Von der Opfer- auf die „Täterseite“. Ein Sprung also, der so gewaltig ist, dass er möglicherweise nicht gewagt werden sollte. Die Lyrikerin Katharina Schäfer, die bereits mit ihrem Gedichtband „weil ich keine jüdin bin“ ihre Affinität zum Thema Holocaust kundtat, präsentierte das Buch „auschwitz: heute“. Das Projekt lässt sich durchaus spannend an. Schäfer hatte 40 000 Postkarten drucken und in Kneipen und Cafés verteilen lassen. Wer interessiert war, konnte die Autorin zu sich nach Hause einladen, die dann in Privatwohnungen in Berlin und Potsdam ihre Gedichte las. Danach wurden die Hörer, vorwiegend Studenten unter 30 Jahren, von einem Interviewer befragt. Schäfers Anliegen ist es, das Thema Auschwitz als Teil der Gegenwart begreifbar zu machen, es aus den Geschichtsbüchern und offiziellen Gedenkstätten heraus in private Räume zu holen. Das ist wichtig, neigt die Mehrheit der Deutschen nach wie vor dazu, die Verantwortung gegenüber der Geschichte, offiziellen Einrichtungen, wie dem Holocaust-Mahnmal, zuzuschieben.
Problematisch ist dabei weder, dass Schäfer keine Jüdin ist, noch dass sie selbst nie Auschwitz besuchte. Problematisch dagegen ist der Beweggrund der Lyrikerin. Ihre eigenen Schwierigkeiten mit dem Thema Auschwitz waren es, die die 1962 geborene Künstlerin dazu bewogen, das Schweigen in ihrer Familie über den Nationalsozialismus durch Gedichte zu brechen. Ihre eigenen Probleme sind es also , die sie nun zu dem Buchprojekt bewogen haben, „Ich“ ist daher das vordringende Wort in Einleitung und Selbstinterview. Angesichts der Erfahrungen von Michael Checinski wirken diese Probleme allerdings klein, was nicht heißt, dass sich die „Täterseite“ nicht mit Auschwitz beschäftigen soll. Ganz im Gegenteil. Nichtsdestotrotz muss die Frage lauten, was die vornehmlich dritte Generation nach den eigentlichen Tätern zu „Auschwitz“ zu sagen hat. Eine Frage, die das Buch nicht zu beantworten weiß. Denn einerseits generalisiert Schäfer „Auschwitz“ als Synonym für Antisemitismus, Judenverfolgung, bisweilen gar Nationalsozialismus schlechthin. Andererseits spielt das Vernichtungslager in vielen Interviews eine untergeordnete Rolle. Das lässt die Frage nach der Intention des Projektes aufkeimen. Da die Interviews nicht kommentiert, teilweise nicht einmal die Fragen abgedruckt und Schäfers Gedichte nicht beigefügt sind, lässt das Buch keinen Dialog entstehen. Weder zwischen den Generationen, auch nicht zwischen Opfern und Tätern. Schon gar nicht zwischen Kunst und Geschichte.
Auschwitz sei kein jüdisches Thema, sagte Katharina Schäfer. Damit hat sie insofern Recht, als dass die Verbrechen, für die Auschwitz steht, nicht von jüdischer Seite begangen wurden. Das heißt aber nicht, dass Auschwitz als Metapher ohne die Opfer funktionieren könnte.
auschwitz : heute. Ein Literaturprojekt von Katharina Schäfer. Joanmartin Literaturverlag 19,90 Euro.
Moritz Reininghaus
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