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Kultur: „Was eine Psychose ist, weiß kein Mensch“

Regisseur Volker Schlöndorff eröffnete das bundesweite Filmfestival „Ausnahmezustand“ im Thalia-Kino

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Jeder dritte Mensch erfährt diesen Zustand einmal im Leben. Die Kunst scheint davon zu leben, ob Shakespeares Hamlet oder Kleists Prinz von Homburg. Der psychische „Ausnahmezustand“ ist, wie Volker Schlöndorff zur Potsdamer Eröffnung des gleichnamigen bundesweiten Filmfestivals am Donnerstag im Thalia sagte, sehr oft das Rohmaterial für Theater und Film.

Der Wahnsinn, das Verrückte, oder klinisch die „Psychose“ ist eine weit verbreitete und dazu noch geheimnisvolle Krankheit. „Was eine Psychose ist“, erklärt Professor Stolz von der Fachhochschule Potsdam den Teilnehmern seines Psychose-Seminars, „weiß kein Mensch – auch wir Fachleute nicht.“ Stolz organisiert seit zehn Jahren solche Treffen, die immer im Raum 4070 der Fachhochschule am Alten Markt statt finden. Hier sitzen Psychoseerfahrene und deren Angehörige mit Ärzten und Studenten zusammen, um ihre Erfahrungen auszutauschen. Auch die Regisseurin Jana Kalms saß als Schwester eines Betroffenen in diesem Kreis. Der Psychiater und die Filmemacherin beschlossen, die Kraft und Energie, die bei diesen Gesprächen entstehen, anderen durch einen Film zu zeigen. Denn das, was bei einem Psychose-Seminar genau mit den Menschen passiert, ist schwer in Worte zu fassen. „Raum 4070“ ist nun auch der Titel des Films, der einem tief beeindruckten Publikum am Donnerstag vorgestellt wurde.

Allen voran Volker Schlöndorff, der in der Diskussionsrunde nach dem Film mit den Regisseuren Jana Kalms und Torsten Striegnitz und Betroffenen vor allem auch die filmtechnische Umsetzung des schwierigen Themas herausstellte. „Die außerordentliche Qualität“ des Filmes liege in „der inneren Haltung“ seiner Macher, sagte er. Diese zeigt sich in den langen, sehr intimen Gesprächssequenzen. Die Kamera ruht auf dem Gesicht, das erzählt. Dann auf dem, das zuhört. Der Betrachter rückt so „unglaublich“ nah, empfand ein Zuschauer, an diese eigene, verrückte, oft bösartige Welt der psychischen Erkrankung heran. Aber auch dicht an das Mitleiden der Zuhörer und Angehörigen. Schlöndorff attestierte zudem einen „virtuosen Filmschnitt“, der die Seminaraufzeichnungen durch fast statisch wirkende Aufnahmen der Gebäudefassade gliedert. Das Haus wird mit seiner Betonfassade zu einem Gleichnis der Seele, die in ihrer Gefangenschaft Höllenqualen erleidet. Ein Film, der es schaffe, „das Unsagbare zu zeigen“, so die Meinung einer Zuschauerin.

Möglich wird dies durch die verblüffende Offenheit aller Beteiligten. Keiner fühlte sich durch die zwei Kameras und vier Mikrofone gehemmt, von seinen dramatischen Innenwelten zu erzählen.

Eine Psychoseerfahrene berichtet von dem Gefühl, in ein Mauseloch schlüpfen zu wollen und von Stimmen. Doch nicht für alle ist der Ausnahmezustand, in den sie durch einen psychotischen Schub geraten, grauenhaft und qualvoll. Eine junge Frau berichtet vom „Garten Eden“, in dem alle Zeichen, ob Verkehrsschilder oder Worte und Lieder aus dem Radio, wie in einem Computerspiel einem einzigen Sinn folgten. Ein Betroffener sagt: „Es ist wie ein Spiel, nicht alle möchte man spielen.“

Höhepunkt der Dramatik ist jedoch die Geschichte von Andreas. In der ersten Sitzung schildert er, wie die Psychose von ihm Besitz ergreifen wollte. Wirre Verfolgungsfantasie. An einem anderen Tag liest er unter Tränen einen vorwurfsvollen Brief seiner Schwester vor: „Du bist nicht mehr mein Bruder.“ Der Vater begleitet ihn im Seminar. Zum Ende des Films der Schock, von Professor Stolz trauervoll verkündet. Er habe den Eindruck, Psychosepatienten ständen immer näher am Tod. Andreas hat sich vom Balkon gestützt. Der Vater dankt den Seminarteilnehmern mit ergreifenden Worten für ihre Anteilnahme.

Als Außenstehender ist man hilflos, das sagen auch die Ärzte. Man kann nur Bindungen schaffen, um die Betroffenen im Leben zu halten. Wie es mittlerweile über 100 Psychoseseminare in Deutschland versuchen. Oder mit dem Film „Raum 4070“ das Zerstörerische, das Rücksichtslose, das Brutale, aber auch das Bizarre und Faszinierende einem großen Publikum vorführen. Warum?

Filmemacher Schlöndorff sprach für alle Anwesenden: „Man beginnt den Film als Zuschauer und endet bei sich selbst.“ Matthias Hassenpflug

Das Festival Ausnahme/Zustand bis Ende Mai mit acht internationalen Dokumentarfilmen und Diskussionen im Thalia Kino Babelsberg statt. Internet: www.ausnahmezustand-filmfest.de

Matthias Hassenpflug

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