Von Heidi Jäger: Wer bin ich eigentlich?
Der Film „Novemberkind“ mit Anna Maria Mühe in einer Doppelrolle hatte im Thalia Voraufführung
Stand:
Schon allein an einer der beiden Rollen hätte man sich leicht verheben können. Doch Anna Maria Mühe nimmt souverän das Doppelpack. Sie durchdringt beide Frauenfiguren – Mutter und Tochter – mit schlichter Natürlichkeit und großem Herz. Und vor allem mit Blicken, die sich einmeißeln. Die Kamera klebt in dem Film „Novemberkind“, der am Donnerstag im Thalia voraufgeführt wurde, hautnah an ihrem Engelsgesicht. Kein Wimpernschlag geht verloren.
Anna Maria Mühes Inga ist ein fröhliches junges Mädchen: unkompliziert, schlagfertig, bodenständig – eine Freundin, wie man sie sich wünscht. Sie hat sich in ihrem mecklenburgischen Dorf Malchow, in dem fast zwanzig Jahre nach der Wende noch immer die Fassaden bröckeln und die Kneipen nach Kartoffelsalat und Bockwurst aussehen, ganz gut eingerichtet. Inga verleiht in der Bibliothek Liebesschmöker, spielt mit den Großeltern Skat, schneidet Opa die Zehnägel und bekommt, als sich ihre beste Freundin zum Studium aufmacht, feuchte Augen. „Tschüss, du Westschlampe. Ich schicke dir ein Paket mit Puddingpulver“, ruft sie ihr versöhnlich-scherzend nach.
Doch mit der Freundin fährt auch Ingas unbeschwerte Kindheit und Jugend davon. Bald verblasst im Kinosaal das Bild von der fröhlichen Inga, die mit Pelzmütze auf dem Kopf in dem eiskalten See kreischend badet. So grau und unergründlich wie das Wasser ist plötzlich auch Ingas Geschichte. Sie wird hoch gespült, als das junge Mädchen durch einen Fremden erfährt, dass ihre Mutter gar nicht in der Ostsee ertrunken ist, wie man es ihr über all“ die Jahre Glauben machte. Stattdessen ging ihre Mutter in den Westen, als Inga noch ein Baby war. Die ohne Argwohn aufgewachsene Inga gerät plötzlich ins Straucheln. Alles, was ihr Halt gab, schwimmt davon. Ein Berg von Vorurteilen und Selbstzweifeln türmt sich auf. Im Dorf trifft sie auf Schweigen und Verdrängung. Bis Inga sich selbst auf die Suche nach ihrer Mutter macht und damit sich selbst näher kommt.
Die dramatische, zutiefst berührende und komplexe Geschichte vom „Novemberkind“, die bereits bei den Max Ophüls Filmtagen in Saarbrücken den Publikumspreis erhielt, bei den Biberacher Filmfestspielen als bestes Spielfilmdebüt gefeiert wurde und Anna Maria Mühe in Schwerin beim Filmkunstfest den Nachwuchsdarstellerpreis einbrachte, wurde auch in Potsdam herzlich beklatscht.
Anna Maria Mühe, Tochter von Jenny Gröllmann und Ulrich Mühe, gab im Beisein von Produzent Matthias Adler und Freundin-Darstellerin Christina Drexler im Anschluss an die Vorstellung Auskunft über ihre bislang größte Rolle, die ihr anfangs durchaus Respekt einflößte. Zumal sie an der Seite solch großer Schauspieler wie Ulrich Matthes, Hermann Beyer und Christine Schorn agierte. „Natürlich ist eine Doppelrolle auch eine doppelte Herausforderung. Man wird ja vom Zuschauer die ganze Zeit verglichen“, so die zarte junge Frau. Doch Regisseur Christian Schwochow sei in der Arbeit sehr detailliert vorgegangen, um ihre Unsicherheiten zu entfernen. Der auf Rügen geborene Regisseur, der zur Wende elf Jahre alt war, habe als Kind einer Familie mit Ausreiseantrag viel von seiner eigenen Geschichte in den Film hinein gepackt, der aber insgesamt eine fiktive Reise in die Vergangenheit sei.
Im März 2006 habe er ihr das Treatment, eine Vorstufe des Drehbuchs, zugeschickt. „Die sind normalerweise immer recht trocken geschrieben. Das hingegen las sich sehr schön.“ Als sie hörte, es sei der Abschlussfilm eines Studenten, dachte sie indes: „Nur junge Leute: Das kann Chaos geben. Doch nach meinem ersten Treffen wusste ich genau, was der Regisseur wollte und fand keinerlei Choas vor.“ Schwochow hatte das Skript bereits mit Anna Maria Mühe im Hinterkopf verfasst.
Die Schauspielerin besitzt keine Erinnerungen mehr an die DDR, auch keine Gerüche lagerten sich in ihr ab. Sie war vier Jahre, als die Mauer fiel. „Ich ließ mir viel von Christian erzählen. Und dabei schossen mir sofort Bilder in den Kopf. Für seine Generation, die der Mittdreißiger, ist das Thema Ost-West jetzt dran.“
Aber auch für sie war dieses Zurückgehen interessant. „In der Schule haben wir außer Hitler und die Wende nichts durchgenommen. Themen wie Stasi und RAF gab es nicht.“ „Novemberkind“ kommt indes ohne großen politischen Überbau aus, es ist vielmehr ein Plädoyer für das Recht auf eigene Geschichte. Dabei schlägt der Film sehr leise Töne an. „Es gab nur wenige Ausbrüche, die ich darzustellen hatte.“ Vor dem Drehen der Szene, in der sie die Mutter spielt, die ihr fiebriges Baby zu Hause lässt, weil sie Angst hat, es könnte auf der Flucht im Kofferraum ersticken, habe sie nächtelang vorher unruhig geschlafen. „Ich bin noch keine Mutter und ich befürchtete, dass Mütter sagen würden: ,Dir glauben wir kein Wort“. Es hat mir aber sehr geholfen, dass wir mit einem echten Baby arbeiteten. Das gibt sofort Verantwortung für so ein kleines Wesen. Und es war toll, dass es immer zur gleichen Zeit geheult hat wie ich,“ erzählt sie im PNN-Gespräch.
Oft habe sie sich in dieser Doppelrolle fragen müssen: Wer bin ich eigentlich? „Denn beim Drehen wird immer hin- und her geswitcht, nie eine Szene nach der anderen abgearbeitet.“ Doch die kleinen Verwandlungen vor dem Spiegel mit Leberfleck und Wellen im Haar, die sie in den Rückblenden als Ingas Mutter trägt, reichten zur inneren Konzentration. Und zu einem minimalistischen Spiel mit großer, doppelter Wirkung.
Ab nächsten Donnerstag im Kino.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: