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Wenn Landschaft zur Literatur wird. Island, die Heimat von Sigurjon B. Sigurdsson, kurz Sjón.

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Von Dirk Becker: Wie die Gelassenheit der Gezeiten

Der isländische Dichter Sigurjon B. Sigurdsson, kurz Sjón, ist zu Gast im Peter-Huchel-Haus

Es ist ein karges Land, das der Leser in dem schmalen Buch mit dem Titel „Schattenfuchs“ betritt. Ein kaltes und unwirtliches Land, das von dem Menschen viel Abgeklärtheit verlangt, der sich in dessen Weiten aufmacht.

Wir schreiben das Jahr 1883. Am 9. Januar macht sich Baldur Skuggason auf den Weg, eine Füchsin zu jagen. „Moorschwarz und zottig, mit einer gewaltigen Rute, und hässlich wie die Nacht. In spitzen steilen Sprüngen stob sie davon.“ Und Skuggason, Pfarrer im isländischen Dalur, scheint die Flucht dieser „Zottelschwanztochter“, dieses „Hexentiers“, das für ihn eine Botin des Teufels ist, zu genießen. Denn diese Jagd im isländischen Winter in „Schattenfuchs“ ist mehr als nur das Aufeinandertreffen von Mensch und Tier, an dessen Ende die Füchsin, getroffen vom Schrot, mit einem jämmerlichen Winseln durch die Luft geschleudert wird. Es ist der listenreiche Kampf zweier nur scheinbar ungleicher Gegner, die in seinen Extremen den wahren Charakter eines Menschen wie kaum etwas anderes bloß legt. Und es scheint auch das Strafgericht für Baldur Skuggason sein, der am Ende dieser Jagd für die Rücksichtslosigkeit in seiner Vergangenheit büßen muss.

Sigurjon B. Sigurdsson, kurz Sjón, hat mit „Schattenfuchs“ einen Roman geschrieben, der sich anfangs so kantig und abweisend gibt, wie das Land, über das er schreibt. Die ersten 40 Seiten, auf der die Hatz zwischen Baldur Skuggason und der erdschwarzen Füchsin beschrieben wird, sind nur mit kurzen, fast skizzenhaften Absätzen gefüllt. Aber wie das karge und kalte Land, durch das Sjón seinen Leser führt, zeigt sein karger und scheinbar kalter Stil auch die versteckten Schönheiten dieser Insel. Man muss sie nur sehen wollen. Und fast ohne es zu merken, ist der Leser diesem Land, diesem Stil von Sjón verfallen.

Am morgigen Mittwoch ist Sigurjon B. Sigurdsson, der in seiner Heimat Island für „Schattenfuchs“ im Jahr 2005 den Literaturpreis des Nordischen Rates erhielt, zu Gast im Wilhelmshorster Peter-Huchel-Haus. Doch nicht aus seinem Roman „Schattenfuchs“, der im Fischer Verlag erschienen ist, wird Sjón lesen. Im Huchel-Haus wird der 48-Jährige seine Gedichte vorstellen, mit denen seine schriftstellerische Karriere begann und deren Ton und Färbung auch seine Sprache als Romancier beeinflussen.

Sjón hat in Island mittlerweile vier Romane, Theaterstücke, Fernsehdrehbücher, Kinderbücher veröffentlicht und Libretti verfasst. Daneben sind 12 Lyrikbände von ihm erschienen. Doch auch wer hier vielleicht zum ersten Mal den Namen Sigurjon B. Sigurdsson, kurz Sjón, liest, muss nicht auf einen Unbekannten treffen. Denn Sjón, der lange Zeit selbst Musiker war, hat unter anderem die Texte zu den Liedern „Isobel“, „Joga“ und „Bachelorette“ für die isländische Sängerin Björk geschrieben. Als Schriftsteller aber gilt es hierzulande ihn noch zu entdecken.

Eine Entdeckung in diesem Zusammenhang ist der Verlag, in dem mit „Gesang der Steinesammler“ der bisher einzige deutsche Gedichtband von Sjón erschienen ist. „BuchKunst Kleinheinrich“ aus Münster hat die zweisprachige Ausgabe der Gedichte Sjóns mit 30 Aquarellen von Bernd Koberling bereichert. Verschwimmende Farbspielereien, die wie mikroskopische Welten wirken, gelegentlich auch wie Flechten auf den Felsen Islands. Koberlings Farbfantasien zwischen verblasstem Rot und kanariengelbem Frühlingssehnen sind die perfekte Ergänzung zu den rätselhaften Sprachbildern, die Sjón mit seinen Gedichten schafft. Momentaufnahmen und Stimmungsbilder, Seelenblitze und Geisterstimmen – es ist eine Vielfalt, die Sjón mit seinen Gedichten beschwört. „sieben finger auf einem sargdeckel / zähne begraben an einem abgelegenen ort / vogelflügel genagelt aufs gelenk / ich zähle meine wimpern / im zimmer in dem du geboren bist / räche dich nicht“, heißt es in „selbstporträt“. Wie in jedem guten Gedicht werden auch bei Sjón die Worte beim wiederholten Lesen fühlbar im Mund. Und wie schon in seinem Roman „Schattenfuchs“ auch hier seine Suche nach Geschichten und Bildern in der Vergangenheit wie in dem Gedicht „paris (1895/1985)“. „allein in der nacht / mit einem haschverkäufer / der flüstert: / chocolat, monsieur? / (zu hause stirbt jemand) / und am ende der straße / an der ecke / erreiche ich einen laden / mit mechanischen Puppen / (zu hause stirbt jemand) / sie sind mannshoch / antiquiert / und warten darauf / aufgezogen zu werden / (zu hause stirbt jemand).“

Das skizzenhafte, scheinbar spröde der Sprache, die Andeutungen, die wirken wie Traumbilder, der sanfte Rhythmus der Zeilen, die Gelassenheit der Gezeiten ausstrahlen, all das sind wiederkehrende Elemente in der sprachlichen Kunst von Sigurjon B. Sigurdsson. Und wie in „Schattenfuchs“ gibt es auch in „Gesang des Steinesammlers“ Zeilen, die sich einbrennen, so schön und so geheimnisvoll wie in dem Gedicht, das dem Buch den Namen gab: „... und oben unter der decke hängen / die obsidianbälge / schwer vor / angst“.

Im März erscheint mit „Das Gleisen der Nacht“ im Fischer Verlag ein zweiter Roman von Sjón auf Deutsch. Wie schon in „Schattenfuchs“ geht der Schriftsteller auch hier wieder in die Vergangenheit zurück. In „Das Gleisen der Nacht“ erzählt Sjón die Geschichte von Jónas dem Gelehrten, der um 1636 durch die Welt streifen will, um noch gelehrter zu werden und Ungeheuer zu erlegen. Doch es ist der Mensch, der sich ihm gegenüber immer wieder als das größte Ungeheuer entpuppen wird

Zurzeit ist Sjón Stipendiat des Berliner Künstlerprogramms des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD). Wer die Lyrik und Prosa von Sjón schon kennt, wird schon ungeduldig auf das Erscheinen von „Das Gleisen der Nacht“ warten. Wer Sjón noch entdecken möchte, dem sei der Besuch am morgigen Mittwoch im Huchel-Haus mehr als nur ans Herz gelegt.

Sjón ist am morgigen Mittwoch, 20 Uhr, zu Gast im Wilhelmshorster Peter-Huchel-Haus, Hubertusweg 41. Den Abend moderiert Katharina Narbutovic, die Lesung der deutschen Übersetzungen übernimmt Lutz Seiler. Der Eintritt kostet 5, ermäßigt 4 Euro. Kartenreservierung unter Tel.: (033205) 62 9 63. „Schattenfuchs“ ist im Fischer Verlag erschienen und kostet 16,90 Euro, „Gesang des Steinesammlers“ ist im Verlag Buchkunst Kleinheinrich erschienen und kostet 45 Euro

Dirk Becker

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