zum Hauptinhalt

Kultur: Wie sich die Worte wandeln

Freitag hat im HOT-Gasometer „Hyperion“ Premiere

Stand:

Eigentlich glaubten sie die gelben Reclam-Büchlein für immer in der Ecke verbannt. Nur zu oft quälten sie sich durch die Pflichtlektüre im Deutschunterricht. Heute sitzen Tim und Florian eifrig blätternd über ihrem gelben „Hyperion“, um die schönsten Zitate herauszusuchen. „Wie der Zwist der Liebenden, sind die Dissonanzen der Welt“, liest Tim Winke eine seiner Lieblingsstellen vor, die über den langen Erkenntnisweg von Hyperion, dem Wanderer durch die Nacht, erzählt. Dieser sucht rastlos nach dem Sinn der Welt, erleidet Verluste, Enttäuschungen, Zurückweisungen und findet schließlich in der Liebe zu Diotima Trost.

Auch Tim hat gerade eine lange Reise hinter sich, erkundete ein Jahr lang in der heutigen Welt Licht und Schatten. Am späten Freitagabend steht er nun gemeinsam mit Florian im eisernen Rund des Theater-Gasometers und wird zur Premiere von Hölderlins „Hyperion“ in einem zehnköpfigen Chor dessen Worte Nachdruck verleihen. „Wir verkörpern das Volk von Smyrna, reden Hyperion ins Gewissen, verdeutlichen dem Publikum sein inneres Ringen.“ Die anfangs so fremde Sprache ist den beiden inzwischen vertraut geworden. „Aber wir wollen unsere Rollen nicht überbewerten, wir haben ja nur einen kleinen Textanteil.“

Als sich die Freunde aufgrund einer Annonce in den „PNN“ bei der Regisseurin Andrea Conrad um die Kleindarstellerrollen bewarben, konnten sie bereits auf Bühnenerfahrung verweisen. Schließlich spielten sie während der Abiturzeit drei Jahre im T-Werk bei den „Scharfen Sternen“. „Wir fanden es total spannend, nun in einem professionellen Theater reinschnuppern zu können. Das war gleich eine ganz andere Ebene. Da hört man den Schauspieler Moritz Führmann nur ein paar Sätze sprechen und schon hat man eine völlig neue Idee davon. Man kann im Nu alles nachvollziehen und wird neugierig, wie sich das Stück entwickelt. Jeder Satz hat plötzlich Kraft und Bedeutung.“

Und erzählt wird ja auch über die eigene Zeit. Florian Rummler fühlt sich vor allem von den Gedanken zum Staat angesprochen: „Die rauhe Hülse um den Kern des Lebens, nichts weiter ist der Staat.“ „Ich finde es wichtig, an sich selbst zu appelieren, Veränderungen in der Gesellschaft voranzutreiben. Man kann nicht immer den Staat vorschieben.“ Und sicher sprechen dabei auch seine Erfahrungen mit, die er in Belize bei einem privat organisierten Anti-Aids-Projekt sammelte.

Durch die Probenarbeit hat Florian zudem über die eigene Umgangssprache nachgedacht. „Wir reden oft drauf los, ohne uns Zeit zu nehmen, etwas auszuformulieren. Da kommt man aus dem Kino und sagt, ja der Film war toll und lässt es dabei bewenden. Im Theater hört diese Faulheit des Mundes auf.“ Trainiert werden sie von dem erfahrenen Repetitor Christian Deichstetter. Und auch Moritz Führmann und Sabine Scholze, die Hyperion und Diotima spielen, geben ihnen immer wieder Hinweise, wie durch das Anheben einer Silbe oder das Unterstreichen mit der Hand der Wortgehalt gehoben werden kann. Selbst in ihren Bewegungen werden sie professionell geschult. „An der Seite von Sven Till aus der fabrik bauten wir in kleinen Improvisationsübungen allmählich eine Szene auf, in der wir als Gruppe in den Raum hinein wabern. Es war ein großes Erlebnis: ein Bewusstsein vom eigenen Körper zu bekommen, Impulse von anderen zu übernehmen, eigene weiter zu geben.“ Beide wirken wie elektrisiert von ihrer Theaterarbeit: „Man kann sich nicht hinterm Chor verstecken. Jeder ist gefordert, zum Gelingen beizutragen, und wenn man sieht, wie die Regisseurin für ihr Projekt brennt, wird man einfach mitgerissen.“

Sie finden es wichtig, dass in der Kunst Gefühle gezeigt werden können, während man sich in anderen Bereichen damit vielleicht verletzlich macht. „Die Dichtung ist der Anfang und das Ende der Wissenschaft“, lassen sie noch einmal Hyperion sprechen und so wollen sie auch künftig das Theater nie ganz aus den Augen verlieren, auch wenn sie erst einmal auf die Wissenschaft zusteuern: Florian wird in Budapest Medizin studieren, Tim Wirtschaftspsychologie – dort, wohin das Zulassungskarrussel ihn dreht. „Prüfe alles und wähle das Beste“, würde ihm Hyperions wohl Vater mit auf den Weg geben. Jetzt will aber erst einmal die Premiere gepackt sein. Werden die Zuschauer Hyperion folgen können, ohne vorher bei Reclam nachzulesen? „Einige Szenen wird man sofort verstehen, für andere vielleicht nur ein Gefühl entwickeln. Auf jeden Fall gibt es viel Raum zur Interpretation.“ Heidi Jäger

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })