Kultur: „Wir waren schon halbe Russen“
Vergangenheit ist Gegenwart, solange sie lebt. Zeitzeugen spielen dabei eine wichtige Rolle.
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Vergangenheit ist Gegenwart, solange sie lebt. Zeitzeugen spielen dabei eine wichtige Rolle. Der Potsdamer Filmemacher Dirk Jungnickel hat sie in seiner fünfteiligen Dokumentation über die Opfer der Nachkriegszeit zusammen mit Wolfgang Schwaneberg zu fassen versucht. Der zweiten Teil, „Wir waren schon halbe Russen", war am Dienstag in der völlig überfüllten „arche“ zu sehen.
Er erzählt die authentische Geschichte von vier Deutschen, die um 1947 von den russischen Besatzern der Ostzone (SBZ) aufgegriffen, im Lager Mühlberg/Elbe zwischeninterniert und dann nach Sibirien deportiert wurden, um im Kusnezker Kohlegebiet, genauer in Kemerowo, „deutsche Kriegsschuld“ unter Tage abzuarbeiten.
Jungnickel konzipierte diese Serie bewusst gegen moderne Geschichtsauffassungen, worin „Zeitzeugen“, ohnehin jeder Historiographie im Wege, nur als Staffage für bestimmte Thesen gelten. Mitte der neunziger Jahre fuhr er mit vier Überlebenden wieder dorthin. Was sie sagten und fühlten, füllte den Film sowohl mit „Geschichte“ wie auch mit sehr gegenwärtiger Emotionalität. Nach einer raschen Begutachtung durch russische Mediziner waren die meist 16-Jährigen anfangs froh, dem NKWD-Speziallager auf deutschem Boden entronnen zu sein. Auch den Transport in Güterwagen gen Ost im Februar 1947 nahmen sie noch hin, doch als man, durch einen Spalt im Holz, nach wochenlanger Fahrt das Schild „Asia“ entdeckte, wussten alle Bescheid: Sibirien!
Entbehrungen, Krankheit und Tod begleiteten die Schicksale dieser jungen Männer Tag um Tag. Auch japanische Kriegsgefangene arbeiteten dort. Dürftige Baracken, wenig Nahrung, Sonderschichten an Feiertagen, deren Ertrag man Stalin widmete, Temperaturen bis zu Minus fünfzig Grad im Winter, viele überstanden das nicht. Dazu die schleichende Adaption: Wir waren schon halbe Russen. Beerdigt wurde im Schnelldurchgang: Schnee weg, die Toten hingelegt – und fern heulten schon die Wölfe. Zuerst durfte nicht geschrieben werden, dann aber doch: Die Sehnsucht nach dem Daheim nagte arg an den Deutschen, und als ein russischer Offizier ihnen sagte „Die Heimat will euch gar nicht mehr haben!“, so war das ein kollektiver Schock.
Nachkriegs-Unrecht, in der „arche“ mit einem alliierten Kontrollratsbeschluss erklärt. Er ermächtigte die Sieger, sich Arbeitskräfte für den Wiederaufbau ihrer eigenen Länder zu greifen. 27 000 forderte Stalin forderte aus ostdeutschland an, bekam aber nur 5000, darunter auch diesen „Pelzmützen-Transport“, den 122 schon auf dem Hinweg nicht überlebten. Dieses Thema scheint kaum geöffnet: 120 000 wurden in DDR-Lagern festgehalten, um mit Gewalt und mannigfachem Rechtsbruch einen Schluss-Strich unter die braune Vergangenheit zu ziehen, man hatte den Siegern gehorsam zu sein. Zeit der nächsten Opfer, als „wir glaubten, der Krieg ist vorbei“ – Titel des ersten Teils.
Warum man die Überlebenden 1952 in die Heimat zurückschickte, blieb am Dienstag unbeantwortet. Klar hingegen, daß sie alle auch in der DDR stigmatisiert wurden. Der Regisseur beklagte, dass im heutigen Russland keine vergleichbare Aufarbeitung der Geschichte stattfände – „Nestbeschmutzung“. Zugleich erkannten die vier Zeugen auch, dass manche Fabriken noch immer wie Lager aussahen.
Nicht im „Stalinismus“ sieht Jungnickel das Übel, sondern im „menschenverachtenden Kommunismus“ selbst – da ist er weiter als andere. Schlimm, sagte er, wenn man überhaupt wegen des Potsdamer Lenin-Denkmals diskutieren müsse. Diese Veranstaltung wurde gemeinsam mit der Konrad-Adenauer-Stiftung durchgeführt, die „ihre“ Leute einlud. Als die Rede auf das Unrecht der West-Alliierten kam, wollte man das eine mit dem anderen nicht verglichen wissen. Aber zum Glück gibt es ja „Zeitzeugen“ – noch.
Gerold Paul
Gerold Paul
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