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Damit die Erinnerung nicht verblasst. Ein Angehöriger der unzähligen Toten, die dem Drogenkrieg im Norden Mexikos zum Opfer fielen, zeichnet deren Namen auf einem schlichten Holzkreuz nach.

© Jeanette Erazo Heufelder

Kultur in Potsdam: Wo Mord der Alltag ist

Die Potsdamerin Jeanette Erazo Heufelder hat den Norden Mexikos bereist, der von Gewalt und Korruption in einem seit Jahren andauernden und immer weiter eskalierenden Dorgenkrieg geprägt wird. Ihr Buch mit dem schlichten Titel "Eine Reportage" gewährt tiefe Einblicke in diesen „Drogenkorridor Mexiko“.

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Und dann erzählt Jeanette Erazo Heufelder von ihrem Zwischenstopp in El Sauzal. Wie sie da an der Straße im Norden Mexikos steht und auf den Bus wartet. Wie sie plötzlich diesen Stoß spürt. Wie sie am Hals gepackt und nach hinten in den Straßengraben gezogen wird. Und wie der junge, freundliche und sich hilfsbereit gebende Mann, der kurz zuvor noch zu ihr gesagt hatte, dass er hoffe, der Bus möge gleich kommen, denn diese Gegend sei gefährlich, ihr ein Messer in die Rippen drückt und sie ausraubt.

Es überrascht nicht, dass Jeanette Erazo Heufelder diese Erfahrung machen musste. Nicht nach dem gut zweistündigen Gespräch und der Lektüre ihres Buches, das den schlichten Untertitel „Eine Reportage“ trägt. Was einen überrascht, ist die Beiläufigkeit, mit der die 46-Jährige von diesem Überfall erzählt. Unaufgeregt und mit einem leichten Unterton, der fast schon entschuldigend klingt, dass ausgerechnet ihr das passieren konnte.

„Ich schreie um Hilfe, aber der Wind trägt meine Stimme davon“, schreibt Jeanette Erazo Heufelder in ihrem Buch „Der Drogenkorridor Mexiko: Eine Reportage“ über ihre erste Reaktion nach dem Überfall an der Straße von El Sauzal. Und wie beim Lesen von „Der Drogenkorridor Mexiko“, wenn dieser Satz einem zum Innehalten zwingt, so entsteht auch nach dem persönlichen Bericht von Jeanette Erazo Heufelder ein Moment des Schweigens, des Innehaltens. Und man blickt von dem großen Tisch in der Wohnung der Heufelders in der Berliner Straße auf, hin zu den Panoramafenstern, hinter denen der Tiefe See still im Sonnenlicht liegt.

Es ist diese Ruhe in diesem großen Zimmer, das viele Licht und der fast erstarrte See, diese Idylle, die einen förmlich zu der Frage drängt, was eine Frau wie Jeanette Erazo Heufelder dazu treibt, für mehrere Wochen in den Norden Mexikos zu reisen und dort an den Brennpunkten eines entfesselten Drogenkrieges zu recherchieren? Eine Gegend, die von einer Grausamkeit und Gewalt geprägt wird, die einem so unwirklich erscheint, dass man die mittlerweile regelmäßigen Nachrichten über die brutalen Exzesse noch immer mit Unglauben liest. Zuletzt war von dem Anschlag am 25. August in der Stadt Monterrey zu lesen. Maskierte Männer hatten ein Casino mit Brandsätzen angegriffen und dabei 52 Menschen getötet.

Doch für Jeanette Erazo Heufelder ist Idylle keine Kategorie. „München, Berlin oder Potsdam, solche Orte finden sich hier überall“, sagt sie. Und dann erzählt sie von einem befreundeten Mexikaner, der erst vor Kurzem zu Besuch war und immer wieder ungläubig gefragt hat, wo denn die Polizei hier in den Straßen sei. Der Norden Mexikos und Deutschland: fast möchte man meinen, man spricht nicht von Städten auf unterschiedlichen Kontinenten, sondern von Städten auf unterschiedlichen Planeten.

Ursprünglich hatte Jeanette Erazo Heufelder, Tochter eines Ecuadorianers und einer Deutschen, geplant, etwas über die Corridos, die mexikanischen Bänkellieder zu machen. Lieder, die von berüchtigten Banditen oder Helden handeln. Entweder ein Buch zu schreiben oder, wie schon so oft, zusammen mit ihrem Mann Sylvio Heufelder einen Dokumentarfilm zu drehen. Doch dann wurde sie von der Wirklichkeit der Drogenkriege eingeholt. Ein Thema, dem sie sich nicht verschließen konnte. Im Oktober und November des vergangenen Jahres und im Januar und Februar hatte sie für ihre Recherchen den Norden Mexikos bereist. Ihr Buch „Der Drogenkorridor Mexiko: Eine Reportage“, Ende August im Berliner Transit Verlag erschienen, ist die erste deutschsprachige Veröffentlichung, die endlich tiefe Einblicke in die vielschichtige Gemengelage im Norden Mexikos gibt und so nachvollziehbar macht, wie dieses Land in diese scheinbar aussichtslose Lage geraten konnte. Ein Land, geprägt von einem unwahrscheinlichen Maß an Korruption und Kriminalität und einer traumatisierten Bevölkerung, für die der Tod und das Verschwinden geliebter Menschen mittlerweile zum Alltag gehört.

Für ihr Buch hat Jeanette Erazo Heufelder Culiacan und Badiraguato, Creel und Cusarere, Cuauhtemoc, Chihuahua und Madera, Namiquipa, Benito Juarez und Villa Ahumada, Lebaron und Ciudad Juarez bereist. Orte auf den Routen der Drogenlieferungen in die Vereinigten Staaten und die gleichzeitig Kriegsschauplatz der zahlreichen Drogenbanden wie den Zetas, dem Sinaloa-, Juarez- und Tijuana-Kartells sind. Hier geht es um die Vorherrschaft in einem Geschäft, in dem jährliche Gewinne im dreistelligen Milliardenbereich gemacht werden. Und wenn schon nicht um die Vorherrschaft, dann wenigstens um das Prinzip „Calentar la plaza“.

„Calentar la plaza“ ist eine Terrorstrategie im Narco-Jargon, wie Jeanette Erazo Heufelder schreibt, „den Platz aufheizen, die Front am Köcheln halten, um einen strategisch wertvollen Platz, der vom Feind erobert wurde, nicht räumen zu müssen. Mit der Bevölkerung als Pfand, darauf spekulierend, dass dann bald Verstärkung von dritter Seite kommt.“ Diese dritte Seite, das ist die Politik, die Regierung, vertreten durch Polizei und Armee. Doch das Auftreten von Polizei und Armee ist oft nur Inszenierung. Noch öfter aber sind sie Teil des Problems, Teil des Drogenkrieges. Und je mehr man sich durch diesen „Drogenkorridor“ liest, umso deutlicher wird, dass es den einfachen Menschen in Mexiko tagtäglich fast immer so geht wie Jeanette Erazo Heufelder nach ihrem Überfall an der Straße von El Sauzal: „Ich schreie um Hilfe, aber der Wind trägt meine Stimme davon. “

Jeanette Erazo Heufelder schreibt und erzählt nüchtern und ernüchternd von ihren Reisen. Von den täglichen Morden und Entführungen, der ständigen Gewalt und Bedrohung, der immensen Brutalität und Unsicherheit in einem Land, in dem allein das Recht des Stärkeren gilt. Und obwohl man auf einiges gefasst ist, erschreckt einen dann doch immer wieder das Ausmaß der Selbstverständlichkeit, mit der hier die Drogenbanden agieren. Selbstgerechte Herrscher eines Landes, das wie längst schon aufgegeben und sich selbst überlassen scheint. Wären da nicht die einfachen Leute, die sich trotz der Gewalt, die sich gegen sie und ihre Familien richtet, wehren. Die aufstehen und auf die Ungerechtigkeit aufmerksam machen. Und oft genug fragt man sich, wie lange die Menschen in diesem Chaos, in dieser von pervertierten Moralvorstellungen zerfressenen und Selbstgefälligkeiten geprägten Gesellschaft noch die Kraft und den Mut haben, sich zu wehren.

Prognosen will und kann Jeanette Erazo Heufelder nicht geben. Aber sie reißt uns aus diesem selbstgefälligen Sicherheitsdenken, dem wir uns so schnell nach dem Motto hingeben: Mexiko ist weit weg. Denn die Perspektivlosigkeit unter den Jugendlichen in Mexiko, die sie in die Arme der Narco-Banden treibt, findet sich auch in Europa unter anderen Vorzeichen wieder, wie die Unruhen in England gezeigt haben. Und nach den Vereinigten Staaten ist Europa der zweitgrößte Absatzmarkt für die Drogen aus Süd- und Mittelamerika.

Fast wie Ironie klingt es dann, wenn Jeanette Erazo Heufelder erzählt, dass sie bei ihren Recherchen auch auf die Corridos, die Bänkellieder, gestoßen ist, deren Geschichte sie ursprünglich erzählen wollte. Eine pervertierte Form: die Narcocorridos, die zur Begleitmusik ihrer Reise wurden. Lieder, in denen das Leben und die Brutalität der Drogenbanden verherrlicht werden. Beste Propaganda für den Nachwuchs, für den das Grauen soweit banalisiert wird, bis es nur noch Spaß und Unterhaltung ist.

„Der Drogenkorridor Mexiko: Eine Reportage“ ist im Berliner Transit Verlag erschienen und kostet 19,80 Euro

Dirk Becker

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