Das Leben im Aufschlag eines Jackenärmels ist gefährlich. Doch es bietet Emma und Leonie Schutz vor den Augen des gestrengen Herrn Praeceptors, der über die strikte Ordnung im Militärwaisenhaus wacht. Die beiden Mädchen gehören eigentlich nicht hierher. Durch einen Zauberring sind sie aus der Gegenwart ins 18. Jahrhundert gebeamt worden und dabei auf Miniaturgröße geschrumpft. So finden sie Platz in der abgewetzten blau-roten Jacke von Johann, einem der 2000 Potsdamer Militärwaisenhauskinder, und werden aus ihrem wackligen Ausguck Zeuge eines für sie unvorstellbaren Lebens zwischen Knute, Armut und Krankheit. Es ist eine recht verstiegene Idee, die dem Romanerstling von Caroline Flüh zugrunde liegt. Aber sie funktioniert, auch wenn man sich einen noch größeren Sprachfluss und einen stärkeren Focus auf die eigentliche Geschichte gewünscht hätte als auf das beengte Leben in einem Ärmel.
Die Leser von „Diebstahl im Waisenhaus“ bekommen durchaus auf spannend und unterhaltsame Weise ein Gefühl vermittelt, mit welchen Ängsten und Nöten Kinder zu Zeiten Friedrich des Großen lebten: zwischen Andacht, spärlichem Frühstück bei Wasser und Trockenbrot und der gefährlichen funkenstiebenden Arbeit in der Waffenproduktion. Zwar lernten die eng zusammen gepferchten Soldatenkinder und Militärwaisen auch Rechnen, Schreiben und Lesen, aber vor allem waren sie billige Arbeitskräfte, die oft bis zum Umfallen schufteten.
Bevor die Geschichte am heutigen Donnerstag im ehemaligen Militärwaisenhaus in einer Lesung von Schauspieler Hans-Jochen Röhrig ihre Premiere haben wird, ließ die Autorin sie bereits von ihren beiden Töchtern Vera und Mirjam und von einem 12-köpfigem Kinderlektorat „abnehmen“. Befanden die Lesekinder ein Kapitel für zu langatmig, kürzte Caroline Flüh die Texte. Die gebürtige Stuttgarterin ist über das abendliche Geschichtenerzählen am Bett ihrer Töchter und deren unaufhörliches Fragen zum Schreiben gekommen. „Aber ich habe früher auch viele Briefe geschrieben“, so Caroline Flüh, die jahrelang die Welt bereiste, um das Ungleichgewicht von armen und reichen Ländern aufzuspüren. Die Tochter eines Textilunternehmers studierte an der Harvard University in den USA Volkswirtschaft mit Schwerpunkt Entwicklungsökonomie. Sie beriet Firmen, wie die Textilindustrie in Entwicklungsländern unterstützt werden kann.
Als ihre Kinder geboren wurden, beendete Caroline Flüh die Welterkundung und fand in Potsdam ihren neuen Lebensmittelpunkt. Sie übernahm Ehrenamtsarbeit in der Kita „Zwergenland“ der Evangelischen Kirchgemeinde Babelsberg und entwickelte ein neues Hortkonzept mit, das auch älteren Kindern in 5. und 6. Klassen eine Betreuung ermöglicht. Den Anstoß für „Diebstahl im Waisenhaus“ gab eine historische Führung durch Potsdam, die die 48-Jährige von ihrem Mann zu Weihnachten geschenkt bekam. Da es wenig Historisch-Packendes für Kinder auf dem Büchermarkt gab, machte sie sich selbst ans Werk. Und gründete gleich noch einen eigenen Verlag dazu: „Damit Kinder nie aufhören, Fragen zu stellen“.Heidi Jäger
Caroline Flüh stellt heute, 16 Uhr, gemeinsam mit Hans-Jochen Röhrig das Buch „Diebstahl im Militärwaisenhaus“ (Colonie Verlag, 12.95 Euro) im Friedenssaal der Stiftung Großes Waisenhaus zu Potsdam, Lindenstraße 34a/Ecke Spornstraße, vor. Die Gäste können zudem ein altes Knopf-Hüpf-Spiel erlernen
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