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Von Dirk Becker: Zwischen Silberlingen

Tanz aus Japan in der „fabrik“ – Ein Erlebnis zwischen Ärger und restloser Begeisterung

Stand:

Mit „I am aroused“ kam der Ärger und die Frage, ob der Japaner vielleicht nur ein andere Geräuschempfindlichkeit als der durchschnittliche Potsdamer hat.

„Tanz aus Japan – Tradition und Moderne“ war das Programm am Mittwoch- und Donnerstagabend in der „fabrik“ überschrieben. Drei Ensembles, die mit „opulent ausschweifendem Tanztheater, konzentrierter Butoh-Performance und expressivem Multimedia-Theater“, wie es im Programmheft stand. Das weckte Erwartungen und natürlich auch Bedenken, wie weit man dem Geschehen auf der Bühne überhaupt folgen kann. Tanztheater gibt sich gern kryptisch und lässt die Assoziationsrädchen im eigenen Kopf nicht selten so lange laufen, bis es anfängt zu qualmen. Schon das eröffnende Stück „Circus“ vom Natural Dance Theatre gab diesbezüglich einen prachtvollen Vorgeschmack.

Die Welt ist aus den Fugen, das machte „Circus“ schnell klar. Und wenn der moderne Arbeitssklave, in der schwarz-weißen Bankeranzugsuniform gekleidet, trotz herrlichster Selbsterniedrigung aus seiner Knechtschaft gestoßen wird, kann er nur auf den Hund kommen. Als solcher heult er den dunklen Saalhimmel an, hechelt über die Bühne und beobachtet erstaunt das wilde Treiben. Dem Zuschauer erging es nicht anders.

Unsicherheit in der eigenen Haut, Misstrauen der Umwelt gegenüber, vorsichtiges Tasten nach der vielleicht rettenden Liebe, das Herumgestoßenwerden in dieser Welt, die Würde des Lumpenproletariats, aus dem ein neuer Mensch geboren wird, der anfangs, nackt und unsicher über die Erde stolpert und dann seine Wiederkehr als abgehalfterter Zirkusdirektor feiert – es ging zur Sache in „Circus“. Bis zu zwölf Tänzer bevölkerten die Bühne und ließen mit ihren Andeutungen, Spielen, den mitreißenden Choreografien und akrobatischem Gewirbel die Assoziationsrädchen auf Hochtouren laufen. Doch spätestens als die „Internationale“ musikalisch durch den Kakao gezogen wurde und der Zirkuspavillon aus Fallschirmseide selbst anfing, wie von hunderten Winden getriezt, zu toben, ließ man das Nachdenken sein, ließ sich berauschen vom Natural Dance Theatre, das dort mit affenzahniger Geschwindigkeit über die Bühne tobte. Tänzerische Reizüberflutung, die am besten funktioniert, wenn der Kopf ausgeschaltet ist. Sich berauschen an Farben, Bewegungen, Bildern und die Tänzer beobachten, die trotz der Anstrengungen mit wild-begeisterten Gesichtern tanzten. Das Publikum im fast ausverkauften Saal tobte vor Dank.

Doch dann kam „I am aroused“ mit Baby-Q.

Das Künstlerkollektiv Baby-Q „gilt als Shooting-Star der Kultur- und Nightlifeszene in Tokio“ erklärte das Programmheft. Und das neben Tänzern und Schauspielern auch Musiker und Videokünstler für das entsprechende Multimedia-Spektakel sorgen. Das in Potsdam gezeigte Stück „I am aroused (Ich bin erregt)“ beschäftige sich mit der Beziehung der Geschlechter, mit Sexualität und Fantasien zwischen Traum und Wirklichkeit. Das muss wissen, wer sich dem seltsamen Spiel von Baby-Q aussetzt. Denn vieles kann man in diese Performance interpretieren. Aber Sexualität? Es sei denn, man hat dazu ein albtraumhaftes Verhältnis.

Die Stimmung ist düster in diesem Stück, in dem eine Frau mal allein, dann wieder in der Gruppe, mal mit Schwangerenbauch, mal ohne, wie an Seilen hängend, durch „Traum und Wirklichkeit“ tanzte. Dann mal rennende, mal tanzende Männer, die sich, mit unrasierten Beinen, in aufreizenden Abendkleidern präsentierten. Bis auf eine vermummte Tänzerin am hinteren Bühnenrand, die auf einem Stuhl saß und sich zwischen den Beinen herumfuhrwerkte, als gelte es, dort den Leibhaftigen auszutreiben, war da nicht viel von Sexualität zu spüren. Und vielleicht die zum Ende hin eingespielten Filmaufnahmen von sich paarenden Insekten, untermalt mit Gestöhne. Das war der Pennälerhumor, der diesem seltsamen Spektakel nur noch die unrühmliche Krone aufsetzte. Zu dem Zeitpunkt hatte der Ärger einen schon fest im Griff.

„I am aroused“ wurde untermalt von Klangcollagen und einem Geräuschterror in einer Lautstärke, bei dem man sich fragte, ob die Zuschauer aus dem Saal gejagt werden sollten. Ein Teil hielt sich verzweifelt die Ohren zu, ein Gast ergriff gar die Flucht. Niemand hat etwas dagegen, wenn er sich in einem solchen Stück auch Unangenehmem aussetzen soll. Doch auf einen Tinnitus als Mitbringsel kann jeder verzichten. Und als dann auch noch der Tänzer und Choreograf Ko Murobushi mit seinen beiden Begleitern das abschließende „Dead 1“ mit einem ohrenbetäubenden „Purple Haze“ von Jimi Hendrix eröffneten, kochte der Ärger in einem noch stärker hoch.

Da saß man in diesem Krach und betrachtete die am ganzen Körper silbernfarbenen Tänzer, die einem in perfekt ausgeführtem Schulterstand, im Yoga auch Kerze genannt, den Rücken zuwandten. Tadellose Körperhaltung, athletische Burschen mit Hang zu engen Unterhosen. Ja, das sah gut aus und dauerte und dauerte. Der aufmerksame Beobachter erkannte an den zitternden Hinterbacken der Butoh-Tänzer, dass die Haltung langsam für sie anstrengend wurde. Doch erst als ein vorsichtiges Klatschen aus den Zuschauerreihen kam, sackten die drei in Zeitlupengeschwindigkeit in sich zusammen.

Hendrix hatte sich mit „Purple Haze“ ausgetobt, nun gaben die drei Tänzer meckernde, knurrende, brummende und kreischende Geräusche von sich. Zu diesem Zeitpunkt hatte man mit bitterster Ironie die letzte Phase vor der endgültigen Resignation erreicht und sagte schadenfroh zu sich selbst: So schön kann Donnerstagabendunterhaltung sein. Und dann kippte alles, löste sich der Ärger in Nichts auf, blieb nur noch pure Begeisterung.

Vielleicht brauchte es Zeit, bis dieser eigenwillige Butoh-Tanz, der mehr Bewegungskunst denn Tanz ist, seine Wirkung entfalten konnte. Vielleicht lag es auch an „Bailero“, diesem traditionellen Volkslied aus der D’Auvergne, gesungen von Frederica von Stade, begleitet vom Royal Philharmonic Orchestra, das anfangs ganz leise aus den Boxen drang. Die Silberlinge bewegten sich, zitternd, tastend, scheiterten immer wieder am Versuch, sich aufzurichten. Und das Thema von „Dead 1“, der Zyklus von Geburt, Leben und Tod, überrollte einen ganz plötzlich mit seinen eindrucksvollen Bildern. Man saß wie gebannt und wusste selbst nicht genau, was auf einmal passiert war. Man schaute nur und saugte alles in sich auf. Und als am Ende das Publikum tobte und gar nicht mehr aufhören wollte, da tobte man begeistert mit.

Dirk Becker

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