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Potsdam-Mittelmark: „Auch im Anzug hab’ ick die Leute nicht beschissen“

Gerhard Ortel verkauft in Teltow günstig Baby- und Kindersachen. Früher war er Immobilienmakler. Politiker nennt er „hohle Vögel“

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Gerhard Ortel verkauft in Teltow günstig Baby- und Kindersachen. Früher war er Immobilienmakler. Politiker nennt er „hohle Vögel“ Von Peter Könnicke Svenja war ein echtes Schnäppchen. Gute Qualität, keine Spanplatte, sondern massive Buche. „Hat mal 119 Euro gekostet“, sagt Ortel. Er verkauft die Babywiege „Svenja“ für 59,90. Gerhard W. Ortel sitzt auf einem kleinen Holzstuhl umgeben von Pappkartons, die bis unter die Decke gestapelt sind, zwischen aufblasbaren Plantschbecken, Bobbycars und Strampelanzügen und liefert eine genaue Definition, was ein Schnäppchen ist: „Ein richtiges Schnäppchen ist, wenn man an gute Markenware rankommt und preiswert an die Endverbraucher verkaufen kann.“ Ortels „Endverbraucher“ sind junge Mütter und Väter, Omas und Opas, die auf der Suche nach preiswerten Babysachen sind. Wenn sie sich dabei in die Teltower Oderstraße verirrt haben, „real“, „Praktiker“ und „Leo’s Fliesenhaus“ ein halber Kilometer hinter ihnen liegt und sie an der Endhaltestelle des 629er stehen, dann sind sie kurz vor Ortels Schnäppchenparadies. Der ehemalige West-Berliner Immobilienmakler sitzt im Erdgeschoss eines roten Backsteinbaus und offeriert Restposten, Auslaufmodelle, Ausstellungs- und Einzelstücke. „Fast alles fabrikneu und originalverpackt und ohne Beschiss“, wie er betont. Auch „Beschiss“ oder „Betrug“ kann Ortel exakt definieren: „Wenn einer eine Zusage nicht einhält, läuft das unter Betrug.“ Er weiß, wovon er spricht. Als er vor fünf Jahren arbeitslos wurde, haben sie ihm Arbeitsamt die 58er-Regelung angeboten. Wer 58 Jahre alt und arbeitslos war und sich nicht mehr vermitteln lassen wollte, sollte bis zur Rente Arbeitslosengeld bekommen. Klar, dass man damit nur bei der Arbeitslosenstatistik tricksen wollte. „Aber ick hab dit trotzdem unterschrieben“, sagt Ortel. Dann kam Hartz IV und die 58er-Regelung platzte wie eine Seifenblase. Für Ortels Begriffe ist das Betrug. „Staatsbetrug sogar.“ Ortel ist das, was man einen gutmütigen Kerl nennt, einen, den nichts aus der Ruhe bringt. Selbst wenn er Politiker „hohle Vögel“ und „Lügner“ nennt, von denen man sich nicht „verkaspern“ lassen muss, bleibt er seelenruhig sitzen. Er stützt den Arm etwas aufs Knie, wischt sich eine lustige lockige Strähne von der Stirn und lächelt. Manchmal sagt er wie zur eigenen Bestätigung: „Ist doch so!“, als wäre er selbst etwas erschrocken, dass er soeben Schröders Vertrauensfrage eine „einzige Afferei“ genannt hat. Wenn man Ortels kräftigen Arme sieht, kann man sich gut vorstellen, wie er die Kisten voller Babysachen bis unter die Decke wuchtet. 17 Jahre hat er auf dem Bau als Zimmermann gearbeitet. Dann war die Bandscheibe ruiniert und er hat umgeschult zum Industriekaufmann. Die Ausbildung zum Immobilienwirt bezahlte er selbst. 15000 Mark. Weil ihn schon immer der Zusammenhang zwischen Häuserbauen und Häuserverkaufen interessierte, ging er „zur Maklerei“. Das erste Büro, das ihn einstellte, lag am Kurfürstendamm. Er arbeitete gewissenhaft, hatte nie Ärger, aber zufriedene Kunden und verdiente so viel, dass es für eine Eigentumswohnung reichte. Dann kam die Wende. Bauträger wollten nur noch Schnäppchen im Osten machen, „doch wegen der vielen ungeklärten Grundstücksgeschichten stand man als Makler ganz schön auf dem Schlauch“. Und der Westberliner Markt war tot. Die Preise fielen und die Provisionen wurden kleiner. Ortel hatte „keine Lust auf miese Tricks und darauf, die Leute zu bescheißen.“ 2000 wurde er arbeitslos. Das Schnäppchen-Paradies bleibt an diesem Vormittag fast unentdeckt. Eine Frau bedauert, dass der Babyschlafsack, den sie gekauft hat, nicht in den Kinderwagen passt. Ortel gibt ihr die 12,50 Euro zurück. Jemand kauft für nicht mal sechs Euro einen Plastik-Swimmingpool. Und ein junges Pärchen verspricht, bestimmt noch mal vorbeizuschauen. „Das macht doch Spaß“, bilanziert Ortel den Vormittag. Früher verkaufte er Häuser, taxierte Grundstücke, klärte Hypotheken und vermittelte Eigentumswohnungen, heute handelt er mit Restposten von Pinolino, Alvi oder Odenwälder Baby Nest. „Ich bin ein flexibler Mensch“, sagt er. Vielleicht wird Ortel es mal eine Lebensweisheit nennen, dass man auch beim Rechnen flexibel sein muss. Schon vor Jahren hat er erkannt, dass er bei weitem nicht die Rente bekommt, die er jahrelang eingezahlt hat. Er hat unschwer abgelesen, dass unterm Strich 345 Euro Arbeitslosengeld II zu wenig sind zum Leben und es besser ist, mit 61 Rentner zu werden, auch wenn es dann nur 82 Prozent Rente gibt. Er hat neu kalkuliert und herausbekommen, dass es besser ist, die Eigentumswohnung zu verkaufen, um „flüssig zu sein und nicht nur rumfeilschen zu müssen“. Ortel hat schon immer auf Veränderungen, Fügungen und Notwendigkeiten reagiert. Um einmal preiswert an Druckgrafiken von Hundertwasser ranzukommen, hat er pro forma einen Galerievertrieb gegründet. Eine Zeit lang hat er skandinavische Gold- und Silbermünzen gesammelt, „was daran lag, dass meine erste Frau aus Schweden war.“ Als es früher in der Meinekestraße noch einen Kunstmarkt gab, kaufte Ortel Ölbilder von Eleonore Michel, weil er darin „schöne unaufdringliche Geschichten“ erkannt hat. Jetzt hat er den Schnäppchenhandel, damit der Kopf nicht einrostet und weil er nicht den ganzen Tag aus dem Fenster gucken will. Anfangs versteigerte Ortel die ausrangierten Sachen seiner Enkel bei eBay. Daraus ergaben sich jede Menge Geschäftskontakte und er gründete seinen eigenen Internetversand. Auf 70 Quadratmetern richtete er sich ein Lager ein, in Fabriken kauft er Restposten auf, die er dreimal pro Woche in der Oderstraße anbietet. An den anderen Tagen kümmert er sich um den Postversand. Ohne es zu merken, ist Ortel zu einem winzigen Rädchen im globalen Wirtschaftsgetriebe geworden. Als ein westfälisches Unternehmen in Ostdeutschland ein Rollerwerk aufkaufte und dann die Produktion nach Lettland verlegte, kaufte er aus dem Restbestand 300 Roller. „Die gingen im Internet wie Sau.“ Trotz seiner kleinen lukrativen Nebenrolle in dem großen Spiel fasst er sich an den Kopf: „Obwohl die Letten weniger verdienen, sind sie die Roller nicht billiger geworden. Das ist doch eine Scheißpolitik. Und ich vermute mal, dass da noch richtig Fördermittel abgegriffen wurden“. Ortel hat jetzt Fahrt aufgekommen. Er eilt von Ansiedlungssubventionen zur Lüge von der Halbierung der Arbeitslosenzahl. Er landet bei Trittin, „der uns in Schröders Schlepptau gleich noch die höchsten Strompreise in Europa beschert hat“. Er macht die Windkraft für die Abwanderung der Industrie verantwortlich, beklagt Fehlsteuerungen und Ungeschicklichkeiten bei der EU-Osterweiterung, verliert sich in der Floskel, dass Politiker sich an Taten messen lassen müssen, vergleicht 1-Euro-Jobs mit Sklavenhalterei und attestiert der Arbeitsagentur nichts weiter als einen großen Wasserkopf. Er krümmt sich wegen der hohen Benzinpreise, „die richtig weh tun“ und fragt sich, „wie man eine so hoch entwickelte Volkswirtschaft mit dem Fahrrad transportieren soll“. Er schimpft über Revoluzzer, die zum Armani-Anzugträger geworden sind und versichert, dass er früher „die Leute och nich beschissen hat, nur weil ick ’nen Anzug anhatte“. Und er schließt mit der Erkenntnis, „dit Politiker keine Visionen und Programme haben“. Unaufgeregt nach diesem rasanten Ausflug übers deutsche Minenfeld passiert Ortel das Ziel, das er mit einem alten Sprichwort dekoriert: „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott!“ Vielleicht ist diese Weisheit Ortels Navigationsgerät, auf das er sich am ehesten verlässt.

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