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Potsdam-Mittelmark: Ausflug zu Mutter Wolffen und Bahnwärter Thiel

In Erkner bei Berlin ersann Gerhart Hauptmann viele seiner Figuren. Und man kann ihnen heute in Gestalt engagierter Bürger der Stadt leibhaftig begegnen

In Erkner bei Berlin ersann Gerhart Hauptmann viele seiner Figuren. Und man kann ihnen heute in Gestalt engagierter Bürger der Stadt leibhaftig begegnen Von Claus-Dieter Steyer Für den Fischer Hans war es vor 425 Jahren nur eine etwas beschwerliche Tour durch den Winterwald. Sieben Kilometer ging er von seinem Anwesen in „Arckenow“ bis nach Rüdersdorf am südöstlichen Berliner Stadtrand. Dort ließ er am 28. Januar 1579 im Kirchenbuch die Geburt seiner Tochter Maria eintragen. Für die Kleinstadt Erkner bedeutet diese Zeile den Beginn der Geschichtsschreibung. Denn es existiert kein früheres schriftliches Zeugnis über die Verwendung des von „Arckenow“ abgeleiteten Ortsnamens. Da sich die Eintragung im Kirchenbuch 2004 zu einer runden Zahl jährt, packt die Kleinstadt die Gelegenheit mangels anderer Daten beim Schopfe. Sie hat ein Festjahr ausgerufen, das möglichst viele Touristen in den Vorort mit S-Bahn-Anschluss locken soll. Trotz vieler Recherchen des recht rührigen Heimatvereins ist der Nachname des heute so verehrten Fischers Hans nicht bekannt. Aber zumindest über die Lage seines Hauses gibt es Dank späterer Aufzeichnungen keine Zweifel. Er wohnte mit seiner Familie am Flakenfließ zwischen Dämeritzsee und Flakensee, ganz in der Nähe der heutigen Schiffsanlegestelle. Für den Ackerbau taugte der Boden damals wie heute nicht, so dass sich dort noch mehrere Fischer ansiedelten. Wer es genau wissen will, begibt sich ins sehenswerte Heimatmuseum, das auch Zeichnungen und Modelle der damals gebräuchlichen Fischerboote zeigt. An Planken war zumindest in dieser Gegend noch nicht zu denken. Mächtige Eichenstämme wurden ausgehöhlt, um damit die Seenkette zwischen Köpenick und „Arckenow“ zu befahren. Das Heimatmuseum nutzt das älteste Haus von Erkner. Es stammt aus den Jahren 1761/62 und gehörte einer Kolonistenfamilie aus der Pfalz. Friedrich II. hatte Siedler aus vielen Ländern mit günstigem Grund und Boden in sein Preußen gelockt. Drei Familien machten Felder auf dem Gebiet des heutigen Erkner urbar, ehe ein durch Kinder ausgelöster Brand im September 1761 alle drei Häuser zerstörte. Doch die Kolonisten gaben nicht auf. Ein Ehepaar wagte den Neubeginn am Sonnenluch, wie ein kleines Gewässer genannt wurde. Jenes Haus, mit Reetdach, einer damals üblichen absolut dunklen – weil fensterlosen – Küche sowie Wohnungen für mehrere Familien, beherbergt heute das Heimatmuseum. Das ganze Jahr über treffen die Museumsbesucher in den Räumen oder auf dem Innenhof jedoch auf „Fischer Hans“ und andere für Erkners Geschichte entscheidende Personen. Mitglieder des Heimatvereins schlüpfen in die Kostüme und erzählen die Historie. Da lässt eine Perücke und ein teures rotes Gewand unschwer auf den Kriegs- und Domänenrat Johann Friedrich Pfeiffer schließen. Dieser ließ im Auftrag des Königs Maulbeerbäume pflanzen und legte so den Grundstein für eine große Seidenraupenzucht. Der Grundbesitzer Eduard Beust begegnet dem Besucher als eleganter Herr. Zu seiner Zeit machte Beust ein Vermögen, weil er der Eisenbahn Grundstücke für die Strecke Berlin–Frankfurt (Oder) verkaufte. Schon 1842 erhielt Erkner einen Haltepunkt, vier Jahre später gar einen ausgewachsenen Bahnhof. Der beschleunigte die Industrialisierung, die mit dem Bau eines Teerwerks 1909 ihren ersten Höhepunkt erreichte. Zu DDR-Zeiten dann wurden hier unter anderem die Phenolharze für die Trabant-Karosserie hergestellt. Die dabei entstehende Duftmarke drückte bereits beim Aussteigen aus der S-Bahn dereinst mitunter gewaltig auf die Tränendrüsen. Doch in der seenreichen Umgebung der Stadt war dann allerdings davon glücklicherweise nichts mehr zu spüren. Diese schöne Landschaft lockte vor fast 120 Jahren auch einen Mann nach Erkner, der den Ort bis heute überregional bekannt macht: Gerhart Hauptmann. Von 1885 bis 1889 lebte er mit seiner Familie in der damals noch am Rande der Siedlung gelegenen Villa Lassen. Ein Arzt hatte dem damals gesundheitlich angeschlagenen Dichter dringend empfohlen, die Großstadt Berlin zu Gunsten einer ländlich-ruhigen Lage zu verlassen. Heimatforscher haben natürlich peinlich genau Werke, Briefe und Reden Hauptmanns nach Äußerungen über Erkner durchforstet. Sie wurden fündig und somit wird jener Satz immer wieder gern zitiert: „Diesem Wechsel des Wohnorts verdanke ich es nicht nur, dass ich mein Wesen bis zu seinen reifen Geistesleistungen entwickeln konnte, sondern auch dass ich überhaupt noch am Leben bin.“ Nicht nur deshalb ist anscheinend der Respekt vor Hauptmann in der 12 000-Einwohner-Stadt und vor allem im Heimatverein ziemlich groß. Denn im Unterschied zu allen anderen Helden der Stadtgeschichte – selbst der um 1890 hier ansässige Konzertflügelhersteller Carl Bechstein wird gespielt – wagt sich bei den zahlreichen Festen niemand an die Rolle des Dichters. Dafür werden stets zwei Figuren lebendig: Mutter Wolffen aus der Diebeskomödie „Der Biberpelz“ und „Bahnwärter Thiel“ aus dem gleichnamigen Stück. Für beide Figuren und viele andere Werke wie „Fasching“, „Vor Sonnenaufgang“ oder „Die Ratten“ fand Hauptmann in Erkner und Umgebung die Vorbilder und Schauplätze. Das seit 1987 in der Villa Lassen eingerichtete Gerhart-Hauptmann-Museum bietet für Besucher regelmäßig Spaziergänge zu den „Literarischen Schauplätzen“ an. Mit den dort verkauften Handzetteln als Orientierungshilfe kann sich aber auch jedermann auf eigene Faust an den Flakensee, den Karutzsee, nach Hangelsberg, an den Bahnübergang hinter dem Friedhof oder zur von Hauptmann in den Ortsteil Schönschornstein verlegten Wohnung des „Bahnwärters Thiel“ begeben. Natürlich wissen auch die Darsteller der beiden berühmten Figuren über Hauptmanns Werke gut Bescheid. Georg Petrick, der in seiner passgenauen Eisenbahneruniform gerade dem tragischen Roman entstiegen zu sein scheint, kümmert sich als Friedhofsverwalter auch um das Grab von Marie Heinze, die als Wäscherin Hauptmann die Vorlage für die „Mutter Wolffen“ gab. Entgegen den Angaben in den meisten Reiseführern ist die Begräbnisstätte der Frau allerdings keineswegs verschwunden. Sie fand nämlich ihre letzte Ruhe im Grab der Familie des im 1. Weltkrieg gefallenen Leutnants Paul Dirscheit. Noch in diesem Jahr soll eine Hinweistafel den vielen „Hauptmann-Spurensuchern“ den Weg zu „Mutter Wolffen“ erleichtern. Lebendig wird sie durch die Schauspielerin Ursula Schreiner, die mit ihrer liebenswürdigen Art des Erzählens die Gäste auch im Erkneraner Kuhstall zu fesseln weiß. Der steht gleich neben dem Heimatmuseum und dient als „Treff bei Mutter Wolffen“ zu Plaudereien und Vorträgen aller Art. In diesem Jahr steht natürlich die Stadtgeschichte im Mittelpunkt, die einst mit Fischer Hans begann.

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