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Potsdam-Mittelmark: Dolmetscher für die kleinen Leute

15 Jahre dachte sich Manfred Pieske für seine Romane Geschichten aus. Dann wurde „Teltow“ zur Hauptfigur

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Oben links steht ein Drittel seines Lebens. Die Bücher. „Bienen zur Sonne“. „Schnauzer“ und „Traumfrau“. In den oberen Fächern der alten Schrankwand hat Manfred Pieske seine Bücher aufbewahrt. Er hat sie geschrieben. Erzählungen, Romane, Märchen, Künstlergeschichten. Reich an Metaphern und gesellschaftskritisch, so dass über ihr Erscheinen, damals in der DDR, heftig diskutiert wurde. Den „Schnauzer“ habe sich erst Kurt Hager, der die SED-Kultur einflussreich mitbestimmte, durchgelesen, bevor eine Auflage des Buches genehmigt wurde.

Man traut Manfred Pieske gar nicht zu, dass er einst der staatlichen Zensur zu so viel Beschäftigung verhalf. Ein kleiner Mann, freundlich, herzlich, weißes Haar, weiße Bartstoppeln und die Brille oft auf der Stirn - nicht wegen der Denkerpose, sondern weil es praktisch ist. Hier unten im Keller seines Hauses in Stahnsdorf, in der „Klause“, wie Pieske es nennt, starten wir eine Zeitreise. Den Kurs hat sich Pieske vorsorglich auf einen kleinen gelben Zettel notiert, doch den brauchen wir nicht. Uns navigieren seine Erinnerungen. Wir kreuzen hin und her, es geht vor und zurück, einen Vormittag durch ein halbes Leben.

Aufgewachsen ist Manfred Pieske während des Krieges in Pommern. Bauer sollte er zunächst werden, wie sein Großvater. Der Flüchtlingsstrom spülte ihn erst nach Dresden, dann strandete er in Berlin. Die Wohnung war klein, zu fünft teilten sie sich zwölf Quadratmeter. „Ich war ein Straßenkind“, sagt Pieske. Mit 10 wusste er: „Ich werde Schriftsteller!“ Der Vater wollte einen Maschinenbauer zum Sohn, doch Pieske wurde Buchhändler. Fünf Jahre arbeitete er in seinem Beruf. Dann schrieb er Werbetexte für einen Verlag. Schließlich studierte er Kulturwissenschaften, schrieb 15 Jahre lang Bücher, arbeitete als Lektor in einem Verlag, moderierte im Radio Literatursendungen. Seine Geschichten wurden zu Drehbüchern, aber nie zu Filmen. Auch die „Traumfrau“ hat es nicht aufs Zelluloid geschafft, sie wurde ein Wendeopfer. Als die Mauer eingerissen wurde, gingen auch die Verlage kaputt, als Schriftsteller sah Pieske nur eine vage Zukunft. „Ich musste irgendwie Geld verdienen.“

Die letzte Rate für sein letztes Buch gab es in D-Mark. Pieske kaufte sich einen Computer und brach auf in eine neues Zeitalter. An der Schranke winkte Bodo Harenberg. Der westdeutsche Verleger plante einen Berlin-Führer und wollte Pieske als Autor. Sechs Monate hatte er Zeit, um Ost- und West-Berlin auf Papier zu vereinen. Zur Abgabe des Manuskripts wurde er nach Dortmund eingeladen. Reise, Taxi, Hotel – alles auf Kosten des Hauses. Pieske stellte sich in Gedanken seinen Auftraggeber vor: „Ich dachte, dass ist so eine Fünf-Mann-Klitsche.“ Als er in Dortmund aus dem Taxi stieg, las er den Namenszug auf dem Hochhaus, vor dem er stand: „Harenberg“. Pieske war für einen der größten deutschen Verlage unterwegs.

Für den in feinem Leder gebundenen Stadtführer verlangte Harenberg im Handel 68 DM. Ein gutes Geschäft, auch für Pieske, so dass er sich zurücklehnte und befand: „Jetzt mach ich erst einmal ein halbes Jahr gar nichts.“

Als kurze Zeit später jemand vor seinem Haus in Stahnsdorf steht und eine Zeitung verkaufen will, schüttelt Pieskes Frau den Kopf: „Wir kaufen nichts, wir sind arbeitslos.“ Das stimme nicht, habe der Zeitungsmann erwidert. „Ihr Mann ist Redakteur bei dieser Zeitung.“

Der Mann hieß Eberhard Derlig, war damals verantwortlich für Kultur in Teltow und hatte mit dem Grafiker Kurt Zieger das „Teltower Stadtblatt“ gegründet. Schon bei der ersten Ausgabe, im Mai 1991 merkten sie, dass es ohne Redakteur nicht geht. Warum auch immer - sie kamen auf Pieske. Doch der hatte seine Zweifel. Von Journalismus hatte er keine Ahnung und Teltow kam ihm vor, „wie ein lang gestreckter Steinhaufen“. Was sollte da schon groß passieren? Pieske hat die Antwort selbst geschrieben. In tausenden von Zeilen. Ein halbes Jahr hatte er sich gegeben, sechs Monate wollte er mal probieren, wie das ist mit dem Journalismus. Fast zehn Jahre sind daraus geworden.

Er wurde Angestellter im Rathaus, das „Teltower Stadtblatt“ war zunächst ein städtisches Unternehmen. Er schrieb für die monatlichen Ausgaben und machte die Pressearbeit für den Bürgermeister. Seine Beiträge über die Stadtpolitik kamen jedesmal Kündigungsschreiben gleich. „Ich hab geschrieben, wonach mir war“, sagt Pieske. Die Stadtoberen bekamen schnell mit, welch kritische Feder Pieske führte und verlangten, die Artikel zu lesen, bevor sie gedruckt wurden. Doch Pieske umging die Zensur und jedesmal, wenn ein kritischer Beitrag erschien, „dachte ich, jetzt werde ich gefeuert“. Das Stadtblatt wurde zum Friseurgespräch. Das Titelblatt zierte meist eine Karikatur. Die August-Ausgabe von 1991 zeigt einen großen Ballon mit der Aufschrift „Arbeitsmarkt in Teltow im Aufwind“. Eine schwere Eisenkugel hindert den Ballon am Höhenflug, „Treuhand“ steht auf der Kugel. Was Pieske zunächst langweilig erschien, wurde zur journalistische Tummelwiese. „Teltow erwies sich als Glücksfall.“ Die Schlacht der jüdischen Sabersky-Erben um den Ortsteil Seehof, der Aufstieg und Fall des Baumoguls Roland Ernst, der Reinfall des kanadischen Immobilienentwicklers Robert Campeau im Mühlendorf machten selbst in den großen Gazetten Schlagzeilen. Aber in der FAZ und der Süddeutschen stand nichts, was Pieske nicht schon wusste. Als ein Reporter des New Yorker Wall Street Journals nach Teltow kam, um Informationen über den ins Zwielicht geratenen Campeau zu bekommen, schickte man ihn zu Pieske. Und als Brandenburgs damaliger Landesvater Manfred Stolpe beim Richtfest des Mühlendorfes dem kanadischen Bauherren auf die Schulter klopfte und Lobeshymnen tönte, ahnte Pieske im Voraus, was später wahr wurde: Campeau ging pleite, das in bunten Farben beschriebene Wohngebiet blieb über Jahre Investruine.

Zwei Jahre blieb Pieske Schreiber in Diensten der Stadt. Dann wurde er sein eigener Verleger. Das Stadtblatt sollte privatisiert werden – mit dem kleinen West-Berliner Verleger Horst Meyer gründete Pieske eine GmbH, übernahm das Blatt und schrieb fortan als Hauptgesellschafter für seine eigene Zeitung.

Sein Redaktionszimmer wurde zur Beichtkammer für Stadtpolitiker und zum Bürgerbüro der Teltower. An dem „lang gestreckten Steinhaufen“ entdeckte Pieske an jeder Ecke Stoff zum Schreiben. „Ich bin von dieser Stadt und der Faszination, dabei zu sein, nicht mehr losgekommen“, sagt er. Er sah sich als „Dolmetscher für die kleinen Leute“ und übersetzte das „Kauderwelsch“ der Politik in die Sprache des einfachen Mannes. Ein Blatt vor den Mund genommen habe er nie, wenn er das stadtpolitische Kabarett beschrieb. Im Erscheinungsrhythmus des Stadtblatts bekam er Zuspruch und Prügel. Im Mai grüßten ihn die einen nicht mehr, nach der Juni-Ausgabe grollten die anderen. Pieske konnte das ertragen. Vielleicht hat es ihm geholfen, dass er sich als „Streiter für Teltow“ sah. „Druckfrisch und lügenfrei“ reklamierte er auf dem Teltower Wochenmarkt, auf dem er einmal im Monat die neueste Stadtblatt-Ausgabe feilbot. Er verkaufte seine Geschichten und bekam – gleich neben dem Stand mit frischen Eiern – brühwarme Informationen.

„Manchmal“, gesteht Pieske, „stand mir beim Schreiben der Moralist im Wege.“ Nicht selten schrieb er mit Wut im Bauch – etwa, als ein pingeliger Mitarbeiter aus dem Bauamt einen Blumenhändler „fertig machen“ wollte, weil dessen Treppenabsatz städtisches Terrain tangierte. Da ging Pieske mit seinem Manuskript freiwillig zum Bürgermeister. „Stadt ruiniert Gewerbetreibende“, war die Überschrift und Pieske verwies auf dutzende Schwarzbauten in Teltow, um die sich das Bauamt offenbar nicht schere, während es einen kleinen Blumenhändler über einen Treppenabsatz stolpern lässt. Der Blumenladen blieb.

Im Juli 2000 war Schluss. Zehn Jahre hatte Pieske Teltower Zeitgeschichte protokolliert. Dann schaltete er auf Sparflamme, die langen Abende und die nächtlichen Stunden am Schreibtisch hatten ermüdet. Und in ihm drin regte sich die Vergangenheit: Pieske wollte wieder Bücher schreiben. Er verkaufte seinen Verlag und schrieb einen Roman. „Das war eine riesige Befreiung. Eine stilistische Explosion.“ Das Spiel mit der Sprache, das Fabulieren hatte ihm gefehlt. Als Stadtblatt-Reporter musste er Teltow in 60 Zeilen auf den Punkt bringen. Jetzt hat er sich der Stadt „mit großem Atem“ gewidmet. „Teltow Monopoly“ ist der Arbeitstitel seines Romans. „Der ist jetzt fertig“, sagt Pieske. Er weiß nicht, ob das Buch erscheinen wird. Seine Kontakte in die Verlagsbranche sind rar geworden. „Die wollen junge, dynamische Leute“, meint Pieske. „Nicht so alte Säcke“.

Heute wird Manfred Pieske 70 Jahre.

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