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Potsdam-Mittelmark: Ein legendärer Sommer

1891 warf sich Otto Lilienthal in Derwitz dem Himmel entgegen. Für den Ort hatte das kaum Folgen

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Werder (Havel) - Der erste Flugplatz der Welt liegt ein Stück weit hinter dem Dorf. Wer über die Plattenstraße von Derwitz nach Krielow holpert, sieht zur Rechten den Mühlenberg. Wo heute Kühe grasen und sich in der Ferne der Regionalexpress nach Werder vorüberschiebt, wurde vor 120 Jahren Geschichte geschrieben: Von der Kuppe des knapp 60 Meter hohen Hügels warf sich der Ingenieur und Erfinder Otto Lilienthal erstmals dem Himmel entgegen – und schaffte es, über 25 Meter in der Luft zurückzulegen.

Dieses Jubiläum wird in der Region im Sommer auf vielfältige Weise begangen: In Werder und Caputh gibt es thematische Ausstellungen, das Werderaner Theater Comédie Soleil will das von Lilienthal geschriebene gesellschaftskritische Theaterstück „Moderne Raubritter“ aufführen. Und die Derwitzer widmen ihrem berühmtesten Gast am 11. Juni ein Fest.

Es war im Sommer 1891, als der in Berlin lebende Lilienthal nach Derwitz kam, um seine selbst entwickelten Flugapparate auf dem Mühlen- und dem benachbarten Spitzberg zu testen. Er hatte Verwandtschaft im Ort und kannte die landschaftlichen Gegebenheiten. Gerd Schönefeld kennt die Anekdoten in- und auswendig: Der Ur-Derwitzer pflegt als Mitglied des Heimatvereins das Lilienthal-Erbe und wacht über das Gedenkhaus im Herzen des Ortes. In dem kleinen Gebäude neben der Kirche wird auf Schautafeln das nur kurze, aber wohl bedeutungsvollste Kapitel der 640-jährigen Ortsgeschichte erzählt. Fotos zeigen Lilienthal und seine Frau Agnes mit der Müllerfamilie Schwach oder beim Abheben vom Mühlenberg, in einer Vitrine stehen Flugzeugmodelle. Und unter einer Glasvitrine liegt eine Laubsäge, die Gustav Lilienthal 1891 seinem Bruder aus England mitgebracht hatte – und die wohl an dem ein oder anderen Flugapparat zum Einsatz kam.

Kurz nach der Wende, zum hundertjährigen Jubiläum, war im Dorf richtig was los, erzählt Schönefeld. Auf dem Mühlenberg wurde das Denkmal eingeweiht, die Stahlkonstruktion erinnert noch heute an Lilienthals Flugapparat mit dem Namen „Derwitz“. Menschenmassen säumten die Straßen. „Das war ein richtiges Volksfest“, sagt er. Bereits ein Jahr zuvor hatte die Großnichte von Lilienthal den Gedenkstein an ihren berühmten Ahnen im Ortszentrum enthüllt. Bei all der Freude darüber würde sich Gerd Schönefeld aber auch wünschen, dass sein Ort sich intensiver als Lilienthal-Gemeinde vermarktet.

Denn seit Jahren macht das Dorf Stölln im Havelland den Derwitzern ihr Erbe streitig: Dort flog Lilienthal zwei Jahre später und legte weitere Strecken zurück, bis er 1896 tödlich verunglückte. Vom Gollenberg sei der Pionier erstmals eine Kehre geflogen, heißt es dort, also sei er da erst tatsächlich geflogen. Und so landete 1989 in Stölln eine IL-62 auf dem Acker und wurde zum Museum, so wird in Stölln jedes Jahr das Otto-Fest mit Tausenden Besuchern gefeiert. Und Derwitz?

Hier erinnert man eher leise an Otto Lilienthal. Während die Geburtsstunde des Menschenfluges weltweit zu Veränderungen führte, ist im heutigen Ortsteil von Werder vieles beim Alten geblieben. Nach wie vor steht die „Königin-Luise-Linde“ – gepflanzt zu ihrem 100. Geburtstag – an der Dorfstraße, auch baulich sieht Derwitz aus wie vor 120 Jahren. Das einzig Neue ist der Keisverkehr, und mit dem haben hier viele ihre Bauchschmerzen. Um die enge Kurve schiebt sich ein schwarzer Wagen, Schönefeld winkt. Es ist Friedhelm Manegold, ein Nachbar. Sein Vater hatte Lilienthal persönlich fliegen sehen: Als Vierjähriger war er dem Leiterwagen hinterhergelaufen, auf dem der Flugpionier 1891 seine Ausrüstung vom Groß Kreutzer Bahnhof abholte. „Es müsste so viel aufgeschrieben werden, damit man es nicht vergisst“, sagt Gerd Schönefeld. Doch die Kräfte des nur achtköpfigen Heimatvereins sind begrenzt.

Dringend bräuchte man Nachwuchs – für die Chronistenarbeit und für die Vermarktung. So gibt es zum Beispiel in Krielow eine Lilienthal-Straße, auch in Stölln. In Derwitz aber fehlt so etwas. Immerhin: Anfang der 1990er hatte Schönefeld Schilder an den Bushaltestellen befestigt. „Lilienthal-Gemeinde Derwitz“ war darauf zu lesen. Mittlerweile sind die Schilder wieder weg. Geblieben ist die Gewissheit, erster Flugplatz der Welt zu sein – und das erfüllt jeden Derwitzer auch nach 120 Jahren noch mit Stolz.

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