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Seddiner Rangierbahnhof: Einfach mal rollen lassen

Die Bahn hat 300 Loks mit neuer Technik ausgestattet, um die Energiebilanz im Güterverkehr zu verbessern. Unterwegs im Führerstand eines Zuges von Seddin nach Leipzig.

Von Enrico Bellin

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Seddiner See - „Zwangsbremsung, Zwangsbremsung“ tönt die Stimme aus dem Bordcomputer der Lokomotive. Doch Lokführer Steffen Schmidt kann am frühen Dienstagmorgen im Seddiner Rangierbahnhof beruhigt sein: Vor Fahrtantritt testet er lediglich die Fahrzeugsysteme durch, die Bremsen funktionieren. Knapp eine Stunde dauert es vom Aufschließen der Güterzuglok der Baureihe 145 von Bombardier über das Starten aller Systeme und das Ankuppeln der Waggons, bis die Fahrt zum Leipziger Rangierbahnhof Engelsdorf losgehen kann. Am Ziel wird Schmidts Maschine für die 150 Kilometer lange Strecke rund 2700 Kilowattstunden Strom verbraucht haben – so viel, wie ein Haushalt mit drei Personen im Jahr benötigt. Dabei zählt die Lok mit ihren 5700 Pferdestärken noch zu den schwächsten Elektroloks der Deutschen Bahn. Mit einem neuen System will das Unternehmen seine Züge nun deutlich sparsamer machen.

Das „Leader“ genannte System ist inzwischen auf 300 Lokomotiven in Deutschland installiert, entwickelt wurde es vom Bahnzulieferer Knorr Bremse. „In dem System, das wir seit Oktober 2016 erproben, sind alle Fahrpläne und Streckenprofile Deutschlands gespeichert“, sagt Projektleiter Steffen Hasse auf der Lok. Mit Pfeilen zeigt es dem Fahrer an, ob er gerade mehr Gas geben, den Zug rollen lassen oder leicht abbremsen soll. Zudem errechnet es automatisch, ob der Zug langsamer als im Fahrplan vorgegeben fahren kann und trotzdem pünktlich ankommt. Alle Lokführer haben Ende vergangenen Jahres eine Schulung erhalten – auch die 180, die täglich von Seddin aus im Einsatz sind. Der Rangierbahnhof ist die größte Güterdrehscheibe in Berlin und Brandenburg. Der Zug nach Leipzig ist bunt gemischt, ein paar Waggons mit Stahl sind nur von Brandenburg/Havel nach Dresden unterwegs, einige Waggons kommen aber schon aus Dänemark und müssen noch nach Tschechien.

Als Steffen Schmidt seinen 500 Meter langen und 1150 Tonnen schweren Zug pünktlich um 7.08 Uhr in Bewegung setzt, zeigt ihm der kleine Bildschirm oben rechts im Führerstand sofort an, dass er statt der vorgegebenen 100 Stundenkilometer erst einmal nur 80 fahren muss. Kurz hinter dem Bahnhof Beelitz-Heilstätten ist die Geschwindigkeit erreicht, und auf Anraten vom Leader-Bildschirm lässt Schmidt den Zug einfach rollen. Etwa 15 Kilometer geht es so, bis kurz vor Brück, ohne dass sich die Tachonadel nennenswert senkt. Wenn die tonnenschwere Fuhre einmal in Fahrt ist, ist sie so leicht nicht aufzuhalten. Erst als sich die ersten Hügelchen des Flämings wölben – beim Blick auf die Gleise kaum zu erkennen, das Energiesparsystem zeigt aber eine Steigung von zwei Promille an – müssen die vier Fahrmotoren wieder ran. Zwar kennen die Lokführer ihre Strecken auch ohne technische Hilfe gut. „Besonders im Dunkeln ist es aber gut, wenn ich auf dem System schon Kilometer im Voraus sehen kann, ob es bergauf oder bergab geht“, sagt der 52-jährige Lokführer, der seit 30 Jahren im Führerstand sitzt.

Hinter Bad Belzig wird der Lok dann alles abverlangt, kurzzeitig steigt die Strecke um zehn Promille an. Noch immer sagt das System, dass wir 20 Stundenkilometer langsamer unterwegs sein können, als der Fahrplan es vorgibt. Die Pläne enthalten oft Reserven, falls etwa ein Signal eine Störung hat. „Das System gibt auch nur Vorschläge. Der Fahrer muss mit seiner Erfahrung entscheiden, ob er doch so schnell wie möglich fahren will“, sagt Projektleiter Hasse. Tendenziell würden Hasse zufolge die meisten Lokführer aber eher schneller als unbedingt nötig unterwegs sein, aus Angst vor Verspätungen. Das birgt jedoch auch Gefahren: Wer zu schnell ist, fährt womöglich zu dicht auf den vorausfahrenden Zug auf und muss am nächsten Bahnhof anhalten. Das Anfahren eines Güterzuges aus dem Stand verbraucht aber mit einem Mal so viel Energie wie das Waschen von 200 Ladungen in der heimischen Waschmaschine.

Kurz hinter Wiesenburg geht dann der Pfeil auf dem Monitor nach unten: In wenigen Kilometern kann nur noch mit Tempo 65 gefahren werden. Die eigentliche Bremse des Zuges, die auch alle Waggons mittels Luftdruck abbremst, muss Steffen Schmidt aber nicht benutzen. Er kann mit einem Griff die Motoren umpolen, sodass sie die Räder nicht antreiben, sondern abbremsen und dabei Strom zurück ins Netz speisen. Allein bei dem leichten Bremsmanöver werden 25 Kilowattstunden Strom erzeugt, wie auf einem der drei großen Bildschirme im Führerstand zu sehen ist.

Kurz vor dem sachsen-anhaltinischen Rosslau müssen dann aber auch die Luftdruckbremsen ran: Eine Bahnbrücke dort kann nur noch mit zehn Stundenkilometern befahren werden. Die maroden Brücken sind ein großes Problem bei der Bahn in ganz Deutschland, über Jahre wurde ihre Instandsetzung verpasst. Entsprechend oft müssen die Züge unnötig bremsen, mit Folgen für den Stromverbrauch: Insgesamt verbraucht die Güterzugsparte der Deutschen Bahn eigenen Angaben zufolge so viel Strom wie eine Million Zweipersonenhaushalte im Jahr. Bis zum Jahr 2020 will die Bahn nun unter anderem durch das „Leader“-Programm ihren Ausstoß an Kohlendioxid und damit den Energieverbrauch gegenüber dem Jahr 2006 um 30 Promille senken. Derzeit werden noch Kinderkrankheiten behoben: So kann das System etwa noch nicht mit einberechnen, wenn der Zug einen nicht geplanten Halt einlegen und dann die verlorene Zeit wieder einfahren muss. Später sollen die kleinen Computer aber auf weiteren Loktypen eingebaut werden.

Zwei Kilometer vor dem Endbahnhof in Leipzig schaltet sich der Energiespar-Computer ab, für die letzte Meile muss sich Steffen Schmidt vollends auf sein Gefühl und einen Stellwerksmitarbeiter verlassen: Der 500-Meter-Zug muss rückwärts in ein Wartegleis gedrückt werden, per Funk gibt der Stellwerker die Anweisungen zum Bremsen. Anschließend wird der Zug geteilt, die einzelnen Waggons werden je nach Zielbahnhof neu zusammengestellt. Für den Lokführer endet nach gut zehn Stunden der Arbeitstag, der Brandenburger hat sich in Leipzig extra eine Zweitwohnung angemietet. Seinen nächsten Zug, dann nach Hannover, übernimmt Steffen Schmidt erst in 24 Stunden. Von dort wird es dann wieder nach Seddin zurückgehen.

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