Potsdam-Mittelmark: Lange nicht gesehen
60 Jahre hatte Gisela Statt ihre Ersatzfamilie aus dem Krieg aus den Augen verloren. Nun gab es ein Wiedersehen
Stand:
60 Jahre hatte Gisela Statt ihre Ersatzfamilie aus dem Krieg aus den Augen verloren. Nun gab es ein Wiedersehen Von Volker Eckert Teltow/Molln - Sie hatten sich so lange nicht gesehen, dass sie sich erst nichtweidererkannten, über 60 Jahre. Gisela Statt stieg aus dem Auto und hielt die Frau, die vor ihr stand, für eine Passantin. „Kennen Sie die Familie Achleitner?“, fragt sie. Als der Frau die Tränen in die Augen stiegen, wusste Gisela Statt, wer vor ihr stand: die Frau, die im Zweiten Weltkrieg so etwas wie ihre Mutter gewesen war. Wann genau sie sich zum letzten Mal gesehen hatten, kann Gisela Statt heute nicht mehr sagen. Sie war damals im Alter von sechs Jahren aus Berlin ins österreichische Molln gekommen, ein Dort, umringt von hohen Bergen. So etwas ging während des Zweiten Weltkriegs über die Kinderlandverschickung, eine Erfindung der Nazis, mit der sie Kinder aus den bedrohten Städten bekommen wollten. Gisela blieb viel länger als die üblichen vier Wochen: vielleicht zwei Jahre, so genau weiß sie das nicht. Der Grund war Paula, 19-jährige Angestellte ihrer Gastmutter, die sich um Gisela kümmerte und schnell einen Narren an dem Mädchen gefressen hatte. „Mein Berliner Kind“, hat sie sie immer genannt. Giselas Eltern waren wohl einverstanden. In Berlin fielen die Bomben, ihr jüngstes Kind war in Sicherheit. Als Gisela Statt aus Österreich zurückkehrte, war das Haus in Schöneberg durch Bomben zerstört, die Eltern inzwischen nach Ludwigsfelde gezogen, wo der Vater bei Daimler arbeitete. Von den zwei Jahren in ihrer Ersatzfamilie blieben ihr ein paar Fotos, ein Deckchen, das sie in der Schule gehäkelt hatte, und ein kleiner Porzellanpudel. Der Kontakt riss ab. 1954 heiratete Gisela Statt und zog mit ihrem Mann nach Teltow. Hier wohnen sie seit Jahrzehnten in einer Doppelhaushälfte, heute ist sie 69 Jahre alt. „Zu DDR-Zeiten war es ja schwer, die Verbindung wieder aufzubauen“, sagt Gisela Statt heute. Und nach der Wende habe sie gedacht, Paula und ihre Schwester Poldi seien längst tot. Sie habe sie damals eben für älter gehalten, als Kind. Es fällt Gisela Statt nicht ganz leicht, die verlorenen Jahre vor sich zu rechtfertigen. Andreas Statt, Sohn von Gisela, hat seit seiner Kindheit immer wieder Geschichten aus Molln von seiner Mutter gehört. Gisela und Paula verbrachten so viel Zeit zusammen, wie sie konnten. Während sie im Ort lebten, war Paulas jüngere Schwester Poldi noch auf dem Bauernhof der Eltern. Dort erlebte Gisela, wie Kühe mit der Hand gemolken und Butter im Fass gerührt wird. Mittags gab es meist Klöße und Sauerkohl, alle aßen aus einem Topf. Gisela ekelte sich immer ein bisschen wegen des Tropfens, der dem Bauern Ignatz an der Nasenspitze hing. Sie war damals sieben, hatte keine Vorstellungen, was in Berlin vor sich ging. In diesem Sommer ging es auf die goldenen Hochzeit von Gisela Statt und ihrem Mann. Sohn Andreas machte sich noch einmal Gedanken über Molln: Wo lag der Ort eigentlich genau? Vielleicht ließen sich noch irgendwelche Erinnerungen auftreiben, Bilder. Er fing an, im Internet zu suchen und schickte E-Mails an die Gemeinde und den Heimatverein. Und so stellte sich heraus, dass Paula und Poldi noch am Leben sind. Also organisierte Andreas Statt heimlich das Wiedersehen. Seinen Vater musste er allerdings einweihen: „Der verreist sonst nicht.“ Der Besuch aus Teltow hatte sich schnell im Dorf herumgesprochen. Der Bürgermeister überreichte Begrüßungsgeschenke, die Lokalpresse brachte eine große Geschichte. „Überall, wo wir hinkamen, wussten die Leute schon, wer wir sind“, sagt Gisela Statt. Die zwei Tage reichten nicht, um die Vergangenheit aufzuarbeiten. „Was du noch alles weißt!“, habe Paula Achleitner zu ihr gesagt. Dafür habe sie sich an weniger schöne Geschichten erinnert, die Gisela Statt vergessen hatte, zum Beispiel eine wochenlange Scharlacherkrankung. Als Gisela am Anfang noch Heimweh hatte, lief Paula öfter mit ihr zum Bahnhof, immer wenn gerade kein Zug fuhr. „Siehst du, es gibt keinen Zug nach Berlin“, sagte sie dann. Paula Achleitner hat nie geheiratet, keine Kinder bekommen. Die Trennung von Gisela muss ihr damals ziemlich schwer gefallen sein. „Paula“, erinnert sich Gisela an Aussagen ihrer Mutter, „hat damals wohl gesagt, dass sie mich gern adoptieren würde“.
- Österreich
- Schule
- Schule und Kita in Potsdam
- Teltow
- Wohnen in Berlin
- Wohnen in Potsdam
- Zweiter Weltkrieg und Kriegsende
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: