Potsdam-Mittelmark: Mittendrin
Soziale Isolation ist die größte Gefahr für älter werdende Menschen: Was sich Senioren wünschen, vor welchen Hürden sie stehen und wie der Landkreis und die Landesregierung auf die Herausforderung reagieren
Stand:
Einst setzten sie der Wanderungsbewegung junger Leute ein trotziges „Ich bleibe“ entgegen. Heute stehen die alternden Bewohner ausgedünnter Landstriche in Brandenburg vor großen Herausforderungen: Was machen, wenn der Ort nichts mehr zu bieten hat, die eigene Mobilität abnimmt? Die Familie in der Ferne lebt? Ins Heim? Nein!
In einer Fachveranstaltung in der Heimvolkshochschule Seddiner See widmete sich am Mittwoch das Forum ländlicher Raum – Netzwerk Brandenburg gemeinsam mit Experten, Senioren und Vertretern von Brandenburger Kommunen den dringend anstehenden Fragen zum Thema alternder Gesellschaft.
Eines der größten Probleme für ältere Menschen ist die soziale Isolation, sagte die Geschäftsführerin des Evangelischen Diakonissenhauses Berlin Teltow Lehnin, Pia Reisert-Schneider. Um gegen die Vereinsamung anzugehen, hat der evangelische Träger gemeinsam mit dem Landkreis Potsdam-Mittelmark im Bad Belziger Ortsteil Ragösen ein Modellprojekt gestartet, von dem sich Reisert-Schneider eine Initialzündung erhofft. Es handelt sich um einen neuen Treffpunkt für Menschen mit beginnendem Hilfebedarf. Rentner können dort regelmäßig vorbeikommen, sich gegenseitig austauschen, auch Pfleger und weitere Fachkräfte sind vor Ort. Anders als in einem klassischen Seniorenheim sollen hier die älteren Menschen Hilfe zur Selbsthilfe erfahren, um so lange wie möglich selbstständig zu bleiben.
Schon heute hat Brandenburg mit 46,8 Jahren den zweithöchsten Altersdurchschnitt im Bund. Dieser wird künftig deutlich steigen, die schon heute bestehenden Unterschiede in den einzelnen Landstrichen noch weiter zunehmen.
Im umgebauten Gemeindehaus, das leer stand, nachdem die Kirche ihre Pfarrstelle nicht mehr besetzen konnte, hat das Diakonissenhaus das Angebot geschaffen. Die künftigen Besucher packten selbst mit an, um den Garten zu gestalten, im Ort fand Reisert-Schneider auch eine geeignete Mitarbeiterin für die zu besetzende Stelle der Koordinatorin. Ein Glücksfall, sagt sie. Denn qualifizierte Mitarbeiter zu finden, die aus der Region kommen, sei ein weiteres Problem. Auch in den Pflegediensten werde es immer schwieriger, Stellen zu besetzen. „Wir werden schon deshalb künftig mehr im familiären Rahmen organisieren müssen“, so die Diakonissenhaus-Chefin.
Doch nicht überall ist die Familie noch am Ort. „Die Lebenswelten fallen immer mehr auseinander“, sagte Marianne Siggel, Fachdienstleiterin Strategisches und operatives Sozialcontrolling des Landkreises Potsdam-Mittelmark. Wohnen, Arbeiten, Schule und Freizeit würden heute kaum noch an einem Ort stattfinden. Familienverbünde würden auseinandergehen – und müssten folgerichtig durch andere ersetzt werden.
Wenn die eigenen Enkelkinder weit entfernt leben, können Senioren sich auch an anderen Kindern erfreuen. Zu den seit 2012 vom Landkreis Potsdam-Mittelmark entworfenen Seniorenleitlinien zählt laut Fachbereichsleiterin Siegel, „vor Ort gemeinsam mit den Bewohnern barrierefreie Lebensräume zu gestalten“. Flächendeckend werden im Kreis Familienzentren eingerichtet, die Angebote der Einrichtungen stehen auch älteren Menschen zur Verfügung.
Nicht abgehängt sein, mitten im Leben stehen. Die Wünsche der alternden Bevölkerung sind vielfältig: Sieglinde Heppener, Vorsitzende des Seniorenrates des Landes Brandenburg zählt bei der Fachveranstaltung in Seddiner See eine lange Liste mit Wünschen auf. Es gehe darum, gesund zu bleiben, geistig und körperlich aktiv, dafür brauche es neben einer guten medizinischen Versorgung auch viel Eigeninitiative. Zudem wolle die älter werdende Bevölkerung so lange wie möglich mobil bleiben, Nachbarschaft erleben und Unterstützung bekommen. Es gehe auch darum, das Sicherheitsgefühl zu stärken. Senioren würden heute kaum noch am Abend einen Fuß vor die Tür wagen, so Heppener. Früher habe es noch regelmäßigen Kontakt zu Sicherheitsbeamten gegeben, doch sei diese Art der Hilfe mit der Polizeireform stark zurückgefahren worden. Es sei ihrer Ansicht aber nötig, dass eine Kontaktnummer, hinter der ein persönlich bekanntes Gesicht steckt, heute an jedem Kühlschrank klebe.
Die Seniorenratschefin verwies auch auf die zunehmende Zahl von Hochaltrigen. Mittlerweile seien 8,8 Prozent der Brandenburger 80 Jahre und älter und auch die Zahl der über 100-Jährigen werde wohl deutlich steigen. Leben derzeit im Land rund 13 000 Hundertjährige, werden es bis zum Jahr 2050 bis zu 80 000 sein. Nicht zwangsläufig sei Älterwerden mit einem Pflegebedarf verbunden, so die Seniorenratsvorsitzende.
Wie die Lebensbedingungen an die Entwicklungen angepasst werden können, etwa durch Wohngemeinschaften, spezielle Angebote und Begegnungsstätten, damit beschäftigt sich derzeit auch eine Enquetekommission des Landtages. Sie hat den Auftrag, bis Ende kommenden Jahres ein „wirkungsvolles Konzept für die Daseinsvorsorge, die die Teilbereiche Infrastruktur, Mobilität, Gesundheit, Kultur und Bildung einschließe, zu erarbeiten“, sagte deren Vorsitzender Wolfgang Roick (SPD). Seinen Angaben zufolge sei die Abwanderung, die es aus den ländlichen Gebieten in andere Bundesländer oder auch den Speckgürtel von Berlin gegeben habe, inzwischen leicht rückläufig. Prognosen gehen davon aus, dass auch künftig noch mit etwa 1,4 Millionen zu knapp einer Million die Mehrheit der Bevölkerung im ländlichen Raum leben werde. Zu den Aufgaben der Enquetekommission gehöre es auch, bisherige Standards zu überprüfen. Schon jetzt sei feststellbar, dass der ländliche Raum im Gegensatz zu Städten mehr Freiräume bräuchte. Es geht um neue Modelle, die einsames und isoliertes Altern verhindern.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: